Interview: "Folgen unterdrückter Enttäuschungen"

Lukas Rietzschel wurde mit seinem Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ schlagartig berühmt. Viele lesen ihn als Erklärung für erstarkenden Rechtsextremismus.

Der 24-jährige Lukas Rietzschel hat im September 2018 seinen ersten Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ veröffentlicht, der die unterdrückte Enttäuschung im ländlichen Raum Ostdeutschlands in den Jahren nach 1990 mit erwachendem und erstarkendem Rechtsextremismus in Verbindung bringt. Der Autor ist selbst im ländlichen Raum in Ostsachsen aufgewachsen und einer der wenigen, die bisher aus der Perspektive der unteren bis mittleren ostdeutschen Mittelschicht heraus einen Roman erzählt haben. In seiner fiktiven Geschichte begleitet er zwei in den 1990ern geborene Brüder über die Jahrtausendwende hinweg bis in die Gegenwart. Er lässt aus Kindern junge Erwachsene werden, in einer Einsamkeit, die aus dem Schweigen der Erwachsenen in der Nachwendezeit resultiert. Die Generationen der Eltern und Großeltern haben die DDR erlebt, wurden von der Wiedervereinigung mitgerissen, ohne aktiv daran mitgewirkt zu haben. Sie fühlen sich vom neuen System überrannt und trotz neuen Wohlstands von der Gesellschaft und vom Staat diffus im Stich gelassen. Rietzschel beschreibt, wie die beiden Brüder Freundschaften knüpfen, dabei fast eher zufällig ins rechtsextreme Milieu geraten und wie ihre Bereitschaft zu fremdenfeindlichen Gewalttaten wächst.

Kurz nach den rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz 2018 erschienen, traf Rietzschels Roman den Nerv der Stunde. Der junge, im ostsächsischen Görlitz lebende Schriftsteller wurde mit einem Mal berühmt. Zwei Wochen lang stand sein Roman auf der Spiegel-Bestsellerliste unter den ersten Plätzen, gemeinsam mit Romanen von Stephen King und Juli Zeh. Alle großen Medien in Deutschland, auch die Neue Zürcher Zeitung in der Schweiz, berichteten über den Erfolg des Debütromans. In zahlreichen Talkshows war Lukas Rietzschel zu Gast. Noch immer ist er für Lesungen und Diskussionen ausgebucht.

Herr Rietzschel, es war gar nicht so einfach, einen Termin bei Ihnen zu bekommen. In den vergangenen Monaten waren Sie in ganz Deutschland mit Lesungen unterwegs, auf der Frankfurter Buchmesse wurde Ihr Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ gefeiert, in mehreren Talkshows wurden Sie zu den Gründe für Rechtsradikalismus in Ostdeutschland, für das Erstarken der AfD, für die Ausschreitungen in Chemnitz oder brennende Flüchtlingsheime gefragt. Hatten Sie damit gerechnet, dass Ihr im September 2018 veröffentlichter Roman als „Buch der Stunde“ gelten könnte?

Nein, so etwas kann man nicht planen und man kann damit nicht rechnen, zumal das Buch natürlich schon längst fertig war, als Chemnitz Schlagzeilen machte. Aber Pegida bewegt die Menschen schon ein paar Jahre, die geplante Flüchtlingsunterkunft in Bautzen brannte 2016. Der Ullstein-Verlag sah das Thema des Romans und ahnte, dass es Interesse wecken würde. Ich freue mich sehr, dass das Buch so viel Anklang findet, dass die Menschen es annehmen. Und ich finde es gut, dass sie im Moment erfahren können: Aktuelle Themen werden immer noch in Büchern verhandelt.

Sie stammen aus Kamenz in der Oberlausitz, haben in einer Steinmetzschule bei Bautzen Fachabitur gemacht und dann in Kassel Germanistik und Politikwissenschaft studiert. Was war Ihr Anlass, das Buch zu schreiben?

Diese bedrückende, frustrierende Stimmung, das Schweigen zwischen Menschen, die sich nach der Wiedervereinigung einfach nicht mitgenommen, die sich übergangen fühlten, habe ich in meiner Kindheit und Jugend stark gespürt. Wenn nach 1990 ein Betrieb in Ostdeutschland schloss, in dem vorher Hunderte oder Tausende Menschen gearbeitet hatten, dann verschwanden ja damit auch oft Kultur, Sport und eine gewisse soziale Verantwortung für die Menschen, die ein „Volkseigender Betrieb“ in der DDR mit übernommen hatte. Und trotz Förderungen und Unterstützung aus dem Westen wie dem Länderfinanzausgleich fragten sich viele: Was hat die Wende uns gebracht? Warum müssen wir akzeptieren, dass viele Geschäfte schließen, der Bus nicht mehr so oft fährt und manche Orte keine Schule mehr haben? Und was fangen wir mit dem ersten Teil unserer Biografien an? Was in Sachsen los ist, mit Pegida und was dazugehört, wie das von außen wahrgenommen wird und welche Zusammenhänge es zwischen dem Ende der DDR und den rechten Tendenzen gibt, konnte ich erst erkennen, als ich weit weg von zu Hause war. Und erst aus dieser Distanz heraus konnte ich darüber schreiben. In Kassel lebte ich in einer WG ausgerechnet in dem Haus, in dem 2006 das letzte Opfer der rechten Terrororganisation NSU erschossen worden war. Mit dem Blick nach Osten habe ich mich damals gefragt, wie alles zusammenhängt und wie es zu solcher Gewalt überhaupt kommen kann.

Wie viel Autobiografisches steckt in Ihrer Geschichte um die beiden Brüder, die mit der Frustration der Eltern- und Großelterngenration nach der Wende aufwachsen, als Jugendliche mit der Gewalttätigkeit andere Jugendlicher in Kontakt kommen und sich schließlich selbst daran beteiligen?

Das Buch ist nicht autobiografisch, aber ich habe vieles von dem beschrieben, was ich kenne. Auch die Leere, die Jugendliche empfinden können, wenn sie nicht viele Möglichkeiten haben, ihren Horizont zu erweitern, die Fremdenfeindlichkeit aus Unkenntnis und als Ventil. Im Buch ist das natürlich überhöht und zugespitzt dargestellt. Ich habe persönlich erlebt, wie viele Gleichaltrige als Jugendliche ins rechte Milieu gerieten und als wie normal das galt. Es war vielleicht Zufall, dass ich selbst nicht mitgemacht habe.

Der Erzähler in Ihrem Roman bewertet die Handlungen der Jugendlichen nicht, es gibt auch keinen Helden, der sich darüber hinwegsetzt und sich dann „zum Guten“ bekehrt. Ist es Ihnen schon mal passiert, dass man alles falsch verstanden hat und dachte, Sie seien pro rechts?

Ich habe das Glück, dass ich öffentlich so viel über mein Buch sprechen kann. So können Missverständnisse nicht aufkommen. Aber es ist richtig: Ich löse das Verhalten der jungen Rechten nicht ins Gute auf. Bewusst nicht, sonst wäre es platt, hätte ein unrealistisches Happy End oder würde als Propaganda verstanden werden.

Sie haben nach der Buchpremiere in Görlitz im September sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands gelesen. Wie waren die Reaktionen der Zuhörer und gab es Unterschiede zwischen Ost und West?

Es gab vor allem zwei Reaktionen. Viele junge Leute aus dem Osten sagten, sie hätten ihre Kindheit und Jugend genauso erlebt und empfunden und seien deshalb von zu Hause weg in die Großstadt gezogen. Die häufigste Reaktion aus dem Westen war: Das wussten wir so gar nicht. Leute aus dem Ruhrgebiet sagten, den Strukturwandel durch das Ende der Kohle, wie er in der Lausitz stattfindet, hätten sie auch erlebt. Aber sie fragten sich, wieso es politisch im Osten so ganz anders verlaufe. Besonders schön fand ich Reaktionen wie die einer 23-Jährigen aus Halle, die sagte, sie habe jetzt richtig Lust, sich für Demokratie und Beteiligung zu engagieren.

Sind Sie bei den Veranstaltungen in die Situation geraten, Ostdeutschland oder die DDR erklären zu müssen?

Ich werde manchmal gefragt, warum die DDR selbst in meinem Roman nicht auftaucht, warum die Vergangenheit nicht miterzählt wird und ob ein Leser, der nicht in der DDR gelebt hat, verstehen könne, worum es geht. Andere schauen mich mit großen Augen an und erwarten, dass ich Ihnen die DDR erkläre. Das Interesse, dieses Land zu verstehen, ist in Westdeutschland sehr groß, zumindest beim Publikum meiner Lesungen. Aber ich bin nun erst 1994 geboren und habe die DDR genauso wenig erlebt wie die Menschen im Westen. Ich möchte den echten Zeitzeugen auch nicht ihre eigene Vergangenheit erzählen, sondern kann nur die Schatten beschreiben, die sie in die Zeit geworfen hat, in der ich großgeworden bin.

Haben Sie das Gefühl, das Ostdeutschland von außen als generell rechts gesehen wird? Und gelingt es Ihnen, dieses Klischee etwas aufzubrechen?

Diese Sicht haben viele. Ereignisse wie Chemnitz sind in den Medien ja auch sehr präsent und wirken stärker als die Aktivitäten für ein friedliches, tolerantes Zusammenleben. Von dem, was ich an Demokratie und Engagement in Sachsen erlebe, berichte ich deshalb bei meinen Lesungen und Interviews auch ganz bewusst. Auf diese Weise mache ich deutlich, dass es vor allem ein Bild ist, das die Welt draußen von Ostdeutschland hat. Und dass man in Wahrheit alles differenziert betrachten muss.

Sie haben auch in Bautzen und in Kamenz gelesen, wo Sie ja herkommen. Wie ist man Ihnen dort begegnet?

Ich hatte insgesamt schon etwas Angst, ob ich als Nestbeschmutzer dastehen würde. Bei der Buchpremiere in Görlitz war ich schon aufgeregt, aber dann sehr erleichtert darüber, wie viel Wohlwollen mir entgegenkam. Ich habe gemerkt, dass mir die Menschen auch dort gewogen sind, wo ich aufgewachsen bin. Bevor das Buch veröffentlicht wurde, hatte ich es meiner Familie zum Lesen gegeben, um zu wissen, ob ich alles so schreiben kann. Sie waren alle dafür und sehr stolz. Ich denke, das trifft auch auf einen größeren Kreis an Menschen zu. Es ist ja ungewöhnlich, dass ein Roman aus dieser Region kommt. Und er trägt dazu bei, dass man die Deutungshoheit über den Osten nicht mehr nur dem Westen überlässt. Bisher haben vor allem Spielfilme nach dem Opfer-Täter-Schema den Osten erklärt, und viele halten dieses Bild für realistisch. Die Veranstaltungen in der Lausitz waren also eher ein Heimspiel für mich.

Sie leben zwar nicht wieder in Kamenz, sind aber nach Görlitz an der polnischen Grenze gezogen. Warum ist die Stadt ein guter Ort für Sie?

Ich fand Görlitz von Anfang an sehr lebenswert. Nicht nur wegen der schönen Altstadt mit den vielen erhaltenen Renaissancegebäuden, sondern weil es trotz Überalterung und Wegzug hier viele sehr aktive Menschen gibt, die etwas bewegen möchten, über die Dinge diskutieren, die ihnen wichtig sind, und artikulieren, wie sie leben möchten. Das macht die Stadt sehr lebendig und zukunftstauglich. Bürgerräte etwa sind ein großartiges Beispiel dafür, wie sich Menschen ganz konkret und direkt einbringen und Veränderungen anstoßen. Ich sehe mich dabei in der Rolle des Schriftstellers, des Beobachters, der kreativ verarbeitet, was er erlebt, und mache mich trotzdem für Demokratie und für Beteiligung stark, soweit ich das kann.

Sie haben jetzt ein halbes Jahr Lesereisen hinter sich. Werden Sie bald einen zweiten Roman schreiben?

Zunächst bin ich bis Mai mit Lesungen und Veranstaltungen ausgebucht, es kommen immer noch neue Termine hinzu. Einen zweiten Roman möchte ich gern schreiben, habe aber nach dem Erfolg des ersten auch Respekt davor, weil ich nicht sicher bin, ob die Menschen das Buch literarisch gut finden oder den Medien nur das Thema gerade passte. Und ich frage mich natürlich: Muss ich jetzt immer weiter über Rechtsradikalismus in Ostdeutschland schreiben? Erwarten das die Leser? Im Sommer werde ich wieder Zeit haben, kreativ zu sein, dann kann ich mehr dazu sagen.

Ines Eifler ist freie Journalistin in Görlitz und arbeitet als Lektorin unter anderem für Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Erschienen in:Opens internal link in current window Zeitschrift Gegen Vergessen - Für Demokratie Ausgabe 99/2019