Flucht und Neuanfang für Kinder verständlich erzählen

Kinderführungen in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde

von Helge Heidemeyer

Die meisten Erwachsenen haben heute eine Vorstellung davon, wie es zur Zeit der deutschen Teilung in Berlin ausgesehen hat, und noch können viele Einheimische Auskunft darüber geben, wo die Mauer stand. Doch den beharrlichen Fragen der Jüngsten Rede und Antwort zu stehen übersteigt leicht das eigene Vermittlungsgeschick. Wie erzählt man Kindern so von „früher“, dass sie ein plastisches Bild vor Augen haben, Zusammenhänge verstehen und nicht nur erschrecken über Verbrechen und Unrecht? Großartig ist es, wenn es gelingt, ihnen den Unterschied von menschenfreundlichen und menschenfeindlichen politischen Systemen nahe zu bringen. Die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde bietet seit 2010 eine Führung speziell für Kinder an, und sowohl Berliner Grundschullehrer als auch interessierte Berliner Eltern nehmen das Angebot gern wahr: „DDR“, „Mauer“, „Flucht“, „Ossi“, „Wessi“ sind Begriffe, die in Berlin buchstäblich jedes Kind schon gehört hat. Doch wie hängen diese Begriffe zusammen?

Die Dauerausstellung der Erinnerungsstätte zeigt die Geschichte des Lagers, das von seiner Gründung im Jahre 1953 bis zum 30. Juni 1990 Anlaufstelle für rund 1,35 Millionen Menschen aus der DDR war. Sie vollzieht den Weg eines Flüchtlings in den Jahrzehnten der Teilung nach und vermittelt einen Eindruck von den individuell verschiedenen Gründen, die DDR zu verlassen. Die Ausstellung zeigt die vor und nach dem Mauerbau unterschiedlichen Wege aus der DDR, das Notaufnahmeverfahren, das Leben im Aufnahmelager und schließlich den Neuanfang im Westen. Die historischen Situationen werden durch persönliche Erinnerungsstücke ehemaliger Flüchtlinge veranschaulicht. Zahlreiche Biografien in Hör- und Filmstationen, die von in unterschiedlichen Jahrzehnten Geflüchteten selbst eingesprochen wurden, bereichern die Ausstellung um individuelle Erfahrungen. Einige der Zeitzeugen waren selbst noch Kinder, als ihre Eltern sie in ihr neues Leben mitnahmen.

Die Berichte und Erinnerungsstücke dieser Zeitzeugen und die Alltagsgegenstände aus dem Erbe des Notaufnahmelagers sind in hervorragender Weise geeignet, die persönliche Dimension von historischen Daten und Fakten für den Besucher nachvollziehbar zu machen: Eine kleine Damenhandtasche zeigt, wie wenig ein Flüchtling mit in den Westen nehmen konnte. Die Geschichte einer Puppe, die in der DDR zurückgelassen wurde, macht deutlich, dass eine Flucht heimlich vorbereitet werden musste. Eine Zahnbürste erklärt anschaulich, wie vorsichtig ein Flüchtling packen musste, um bei Kontrollen nicht aufzufallen – und wie lang es dauern konnte, bevor er wieder eigenes Geld verdiente, um sich selbst einen so banalen Alltagsgegenstand leisten zu können.

Die Führung für Kinder ist grundsätzlich anders aufgebaut als Führungen für Erwachsene. Für Kinder und Jugendliche setzt die Erinnerungsstätte auf das Prinzip der dialogischen Führung, in der nicht der Führungsreferent selbst Inhalte und Objekte der Ausstellung vermittelt, sondern die Gruppe dazu ermuntert, mitzureden. Durch geeignete Fragen regt er zum Gespräch an, in dem Ansichten und Eindrücke ausgetauscht und neu erworbene Kenntnisse vertieft werden können. Um Zeit zum Nachdenken und Antworten zu geben, Äußerungen aufzugreifen und zu einem wirklichen Dialog mit der gesamten Gruppe zu kommen, werden einige wenige Themen und Objekte sorgfältig ausgewählt. Kinder differenzieren weit weniger als Ältere: Jugendliche haben zumeist bereits Vorstellungen entwickelt von vergangenen Zeiten und Lebensumständen in verschiedenen Epochen. Die Kleinen unterscheiden meist grob in „früher“ und „jetzt“, „gut“ und „böse“, schmerzhafte und angenehme Gefühle. Ihre Fantasie aber, angeregt durch zufällig aufgeschnappte Spionagegeschichten und Filme über die Mauer, ist schier unerschöpflich. So gilt es in der Arbeit mit Kindern eher, allzu radikale Vorstellungen zu korrigieren: Nicht alle Flüchtlinge riskierten ihr Leben, nicht alle Einwohner der DDR waren Spitzel.

Dennoch ist es wichtig, dass die Kinder von ihren eigenen Vorstellungen berichten, denn nur dadurch ist es möglich, korrigierend einzugreifen und kindgerecht zu vermitteln, dass es viele Aspekte in der Geschichte von Teilung, Flucht und Neuanfang gibt. Der Führungsreferent wählt daher in der Kinderführung einfache Worte und formuliert verständliche Fragen für konkret Anschauliches. So lässt er die Kinder etwa ein Foto beschreiben, um eine Situation zu begreifen, fordert sie auf, ein Stofftier genau anzusehen, um sein Geheimnis zu entdecken oder die nachgestellte Flüchtlingswohnung zu betreten, um herauszufinden, was es darin alles nicht

Die seit gut einem Jahr einmal im Monat angebotenen Führungen erfreuen sich wachsender Beliebtheit und bilden zusammen mit dem gemeinsam mit der Gedenkstätte Berliner Mauer buchbaren Kinderprojekttag ein Angebot, das von Eltern und Lehrern dankbar angenommen wird: Familiengeschichten erhalten durch die Entdeckungen in der Ausstellung eine historische Grundlage, Sachkundeunterricht wird in der Erinnerungsstätte anschaulich und begreifbar. Der Aufbau der Ausstellung, die privaten Erinnerungsstücke und die ansprechende Art, in der etwa zwölf von den Kindern zu öffnende Türen die zwölf Stationen des Notaufnahmeverfahrens darstellen, ermöglichen eine – nicht nur – für Kinder verständliche Darstellung von Ereignissen und Zusammenhängen. Der Ansatz, die Kinder mitreden zu lassen über ihre Ideen von „früher“ und sie selbstständig Geschichte(n) entdecken zu lassen, kann auch die Jüngeren für die Vergangenheit begeistern – wir hoffen: mit bleibender Wirkung.

 

Kontakt:

Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde

Marienfelder Allee 66/80

12277 Berlin

Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 10-18 Uhr

Die Termine der Kinderführung finden Sie unter www.notaufnahmelager-berlin.de 

 

Dr. Helge Heidemeyer ist Leiter der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Vorsitzender des Fördervereins Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde und Mitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.