Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961 – 1989

Ergebnisse eines Forschungsprojektes

Die Berliner Mauer als eine der Existenzbedingungen des SED-Staates  ist gleichzeitig ein Symbol für den Verstoß der DDR-Machthaber gegen die Menschenrechte – und ihre friedliche Überwindung für den Sieg von Freiheit und Demokratie.

Dass sich eine Vielzahl von DDR-Bürgern trotz der tödlichen Bedrohung zu einer Flucht über die Sperranlagen entschlossen, belegt einen ungebrochenen Freiheitswillen. Doch gibt es bisher weder eine Gesamtbilanz erfolgreicher oder verhinderter Fluchten noch eine des Sterbens an Mauer und Grenze. Nach wie vor kursieren Zahlen, die auf unterschiedlichen Erfassungen beruhen bzw. denen keine nachvollziehbaren Kriterien zu Grunde liegen.
Die Stiftung Berliner Mauer und das Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschung Potsdam haben in einem Forschungsprojekt die Todesfälle an der Berliner Mauer zwischen 1961 und 1989 untersucht, die Zahl der Todesopfer ermittelt und die Lebensgeschichten und Todesumstände in biografischen Portraits dokumentiert.
Voraussetzung für die Erfassung als Todesopfer war dabei die Verbindung des Todesfalls mit einer Fluchtaktion oder einem direkten Zusammenhang zum Grenzregime. 
Nachweislich sind danach 136 Menschen an der Berliner Mauer zwischen 1961 und 1989 zu Tode gekommen. 98 von ihnen wurden erschossen, 38 der Opfer erlitten Unfälle, an deren Folgen sie starben.
 
Unter den 136 Todesopfern waren:
• 98 DDR-Flüchtlinge, die beim Versuch, die Grenzanlagen zu überwinden, erschossen wurden, verunglückten oder sich das Leben nahmen
• 30 Menschen aus Ost und West ohne Fluchtabsichten, die erschossen wurden oder verunglückten
• 8 im Dienst getötete DDR-Grenzsoldaten, die durch Fahnenflüchtige, Kameraden, einen Flüchtling, einen Fluchthelfer oder einen Querschläger aus der Waffe eines West-Berliner Polizisten getötet wurden

Von den 98 Flüchtlingen wurden 67 erschossen. Bis auf eine Ausnahme waren die Flüchtlinge DDR-Bürger, unter ihnen gab es zehn Fahnenflüchtige. Einziger Ausländer war ein Pole. Er gehört zu den 28 Menschen, die bei Fluchtversuchen an der Mauer verunglückten. Drei der Flüchtlinge nahmen sich beim Scheitern ihres Fluchtversuchs selbst das Leben.
Unter den Opfern ohne Fluchtabsichten waren 22 Einwohner oder Besucher von West-Berlin, von denen 15 erschossen wurden und sieben tödlich verunglückten. Zu letzteren gehören fünf Kreuzberger Kinder, die beim Spielen ins Grenzgewässer fielen und nicht gerettet werden konnten. Acht DDR-Bürger wurden im Grenzgebiet erschossen, obwohl sie keinerlei Fluchtabsichten hatten. Zu den Opfern zählen Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche.

Verteilung nach Alter und Geschlecht
• 9 Kinder unter 16 Jahren,
• 34 Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren, darunter zwei junge Frauen
• 67 junge Erwachsene zwischen 21 und 30 Jahren, darunter zwei Frauen
• 13 Erwachsene zwischen 31 und 40 Jahren, darunter eine Frau
• 12 Erwachsene zwischen 41 und 80 Jahren, darunter drei Frauen
• 1 junger Mann, dessen Identität und Alter bislang nicht ermittelt werden konnten.

Mehr als die Hälfte der Todesopfer kamen in den ersten fünf Jahren nach dem Mauerbau ums Leben. Die zeitliche Verteilung ähnelt in ihrem Verlauf der Fluchtentwicklung über die gesamte Zeit der Teilung. Der Ausbau des Grenzsystems, die Veränderungen der Ost-West-Beziehungen und Bemühungen der DDR um internationale Anerkennung, insbesondere der KSZE-Prozess, wirkten sich auf diese Entwicklungen maßgeblich aus. Dennoch gab es bis zum Ende der DDR zahlreiche Fluchten und immer wieder Todesfälle an der Grenze.

In den Biographien der Todesopfer sind der Ablauf des Fluchtgeschehens und die konkreten Umstände des Todes dokumentiert, die Rolle der Grenzer und deren strafrechtliche Verfolgung, aber auch der menschenunwürdige Umgang der Stasi mit den Toten und ihren Angehörigen. Gleichzeitig wurde versucht, die Lebenswirklichkeit dieser Menschen und ihre Fluchtmotive herauszuarbeiten. Die Biographien belegen DDR-typische Alltags- und Repressionserfahrungen, geben aber auch Einblick in die Situation der Menschen im geteilten Deutschland.
Die überwiegende Mehrheit der Fluchtopfer kam aus Ost-Berlin und dem Berliner Umland. Diejenigen, die in der ersten Zeit nach dem Mauerbau zu flüchten versuchten, kannten die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Stadthälften aus eigener Anschauung. Viele von ihnen hatten Verwandte im Westen oder gehörten zu den Grenzgängern. Die Teilung war schon vor der Grenzschließung für sie von lebensgeschichtlicher Bedeutung. Die Flüchtlinge der späteren Zeit gehörten dagegen einer Generation an, die weitgehend in der DDR sozialisiert wurde und die offene Grenze nicht mehr bewusst erlebt hatte. Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, fehlende Perspektiven und der Drang nach Freiheit prägten ihre Lebenswirklichkeit.
Auslöser für die Flucht waren nicht nur familiäre Verbindungen, sondern konkrete Anlässe. Dazu gehörten berufliche Probleme, Werbung oder Einberufung zur NVA, Repressalien wegen kritischer Äußerungen, verweigerte Ausbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, Gängeleien oder ein versagter Ausreiseantrag. Etwa ein Viertel der Flüchtlinge hatten Konflikte mit der Staatsmacht. Viele waren aus politischen Gründen inhaftiert, zumeist wegen versuchter „Republikflucht. Es gab jedoch auch Flüchtlinge, die sich einer akuten persönlichen Konfliktlage zu entziehen suchten. Diese Konstellation zeigt sich auch bei einigen Todesopfern, die von West-Berlin kommend an der Mauer erschossen wurden. 

Die Biographien der Menschen dokumentieren Folgen und Auswirkungen der deutschen Teilung auf die individuellen Lebensläufe in Ost und West. Manches Einzelschicksal entzieht sich dabei einer eindeutigen Opfer-Täter-Unterscheidung. Unter den Toten finden sich nicht nur politisch Verfolgte, Kritiker und mit den politischen und wirtschaftlichen Zuständen in der DDR Unzufriedene. Auch Stasi-Spitzel, Fahnenflüchtige, die sich mit Waffengewalt ihren Weg in die Freiheit zu bahnen suchten oder im Dienst getötete Grenzposten sind Opfer des Grenzregimes geworden.

Wie schwierig der Umgang mit diesen unterschiedlichen Biographien ist, zeigte sich in der gedenkpolitischen Kontroverse um die Gestaltung des Erinnerungsortes für die Todesopfer in der Gedenkstätte Berliner Mauer. Ursprünglich als „Fenster der Erinnerung“ mit Namen und Portraitfotos für alle Todesopfer an der Mauer geplant, wurde er am 21. Mai dieses Jahres als „Fenster des Gedenkens“ eingeweiht – unter Auslassung der im Dienst getöteten Grenzsoldaten. Sie werden namentlich auf einer gesonderten Stele genannt. Diese Änderung wird dem Stiftungszweck zum würdigen Gedenken an die Opfer entsprechend als qualitativer Gewinn bewertet. Das Dilemma der nach ausgiebiger Debatte getroffenen Entscheidung zeigt sich exemplarisch an zwei Fluchtereignissen. Fahnenflüchtige, die bei ihrem Fluchtversuch einen Grenzer getötet haben und selbst Opfer von Schüssen anderer Grenzer wurden, haben einen Platz im „Fenster des Gedenkens“ gefunden. Die von ihnen getöteten Grenzposten nicht, obwohl sie selbst nicht die Waffe gezogen haben. Die Diskussion, ob sie aufgrund ihrer Funktion, die zur Aufrechterhaltung des Grenzregimes verpflichtete, als Täter zu gelten haben, welche Möglichkeiten der Verweigerung es gab und wie die Ableistung des Wehrdienstes an der Grenze zu bewerten ist, bleibt weiterhin zu führen. Letztlich geht es auch bei Fluchten und Fluchtverhinderung um die Frage der individuellen Verantwortung aller Beteiligten und wie sie in einem diktatorischen System gelebt werden kann. 

Die Dokumentation der Lebens- und Todesumstände der Opfer eröffnet jedoch in jedem Fall die Möglichkeit, sie als Opfer des Grenzregimes zu sehen. Ihre Biographien belegen den Charakter des SED-Staates, der seine Bürger als Gefangene seines Herrschaftsanspruchs behandelte. Ohne Ansehen der Person ließ er auf jeden schießen, der sich dieser Herrschaft durch Flucht entziehen wollte oder der Grenze zu nahe kam. Selbst das Leben derjenigen war gefährdet, die das Grenzregime aufrecht zu erhalten hatten.
Die Gedenkstätte Berliner Mauer befindet sich in der Bernauer Straße in Berlin-Mitte. www.berliner-mauer-Gedenkstaette.de

Maria Nooke ist stellvertretende Direktorin der Stiftung Berliner Mauer und Vorstandsmitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Im Kasten:
Mauer_Lesung_0338.JPG: Sabine Grabis und Matthias Habbich lasen aus den von Fluchthelfer Dieter Thieme gesammelten Flüchtlingsberichten. Foto: Dennis Riffel

Anlässlich des Gedenktages zum Mauerbau lasen am Abend des 12. August 2010 bei einer Kooperationsveranstaltung von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. und der Gedenkstätte Berliner Mauer der Schauspieler Matthias Habich und die Schauspielerin Sabine Grabis  Flüchtlingsberichte, die der im Juni dieses Jahres verstorbene Fluchthelfer Dieter Thieme in den Monaten nach dem Mauerbau gesammelt hat. An der Veranstaltung nahmen neben unseren Vorstandsmitgliedern Dr. Maria Nooke und Prof. Dr. Hansjörg Geiger, der in einer Einführung seine ganz persönliche Erfahrung des Mauerbaus schilderte, auch der Direktor der Stiftung Berliner Mauer, Dr. Axel Klausmeier, sowie einige ehemalige Fluchthelfer und deren Angehörige.