DDR-Geschichte als Lokalgeschichte in den alten Bundesländern

„Keine Matchboxautos in der DDR“
DDR-Geschichte als Lokalgeschichte in den alten Bundesländern

Ein Schülerworkshop in der Kester-Haeusler-Stiftung Fürstenfeldbruck
DDR-Geschichte? Nein, damit hatten sie im Unterricht bisher kaum zu tun, sagen die 20 Elfklässler des Graf-Rasso-Gymnasiums Fürstenfeldbruck in Bayern. Aber sie schauen einen ihrer Mitschüler an. Er interessiert sich für DDR Geschichte, er kommt aus Leipzig. Auf die Nachfrage, ob in ihren Familien über die DDR gesprochen wird, verneinen sie. Alle sind der Meinung, keine Verwandten in der DDR gehabt zu haben. Aber so genau wissen sie das auch nicht. Die Schüler, die zwischen 16 und 17 Jahre alt sind, haben die DDR nie kennengelernt.

Vermittlung von DDR-Geschichte in den alten Bundesländern
Vor den Schülern liegt ein Workshop zur DDR-Geschichte als Lokalgeschichte in den alten Bundesländern. Die lebendige Vermittlung der DDR-Geschichte stellt Lehrer und Multiplikatoren in den alten Bundesländern immer wieder vor eine Herausforderung. Methodische Hilfsmittel wie außerschulische Lernorte oder Geschichte vor Ort sind in diesen Regionen kaum oder gar nicht vorhanden. Mitarbeiter von Gegen Vergessen – Für Demokratie suchen im Rahmen des Projektes „Praktische Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft“ das derzeit in Kooperation und mit Unterstützung der Bundeszentrale für Politische Bildung durchgeführt wird, nach einem Weg, DDR-Geschichte auch in den alten Bundesländern als Lokalgeschichte begreifbar zu machen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Schülern in den alten Bundesländern durch das eigene Lebensumfeld ein Bezug zur DDR-Geschichte eröffnet werden kann? Können eventuell grenzüberschreitende Kontakte von West nach Ost – wie das Schicken von Päckchen in die DDR, Verwandtschaftsbesuche in der DDR, Partnerschaften zwischen Kirchengemeinden in der BRD und der DDR oder ortsansässige DDR-Flüchtlinge – als Grundlage für Zeitzeugengespräche bzw. als Geschichte vor Ort in den alten Bundesländern genutzt werden?
Mit dieser Idee der DDR-Geschichtsvermittlung konzipierte Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. in Kooperation mit der Kester-Haeusler-Stiftung und der Bundeszentrale für politische Bildung in Fürstenfeldbruck einen eintägigen Erprobungsworkshop mit Schülern zum Thema „DDR-Geschichte als Lokalgeschichte in den alte Bundeländern“. Gastgeberin ist die Kester-Haeusler-Stiftung in Fürstenfeldbruck, die Ihre Villa den Schülern und ihrem Geschichtslehrer, vier Zeitzeugen sowie den Mitarbeitern der Bundeszentrale und der Vereinigung zur Verfügung stellt.

West-Zeitzeugen mit DDR-Erfahrung
Die Schüler haben sich in den Tagen vor dem Workshop mit den Grundlagen der Interviewtechnik und mit vier Lebensläufen von Zeitzeugen beschäftigt und Fragen vorbereitet. Nun treffen sie auf die Zeitzeugen. Man spürt die Aufregung der Schüler. Später benutzt jemand sogar das Wort Ehrfurcht. Die Klasse teilt sich in vier Gruppen. In separaten Zimmern führt je eine Gruppe mit einem Zeitzeugen ein einstündiges Interview. Ohne Lehrer und Moderator. Nicht alle Gespräche laufen sofort. Allmählich gewöhnen sich die Schüler an die neue Situation, nicht gefragt zu werden, sondern selbst zu fragen und immer wieder nachfragen zu dürfen. Die Stimmung prägen die Zeitzeugen. In einem Raum wird gelacht, im nächsten Raum antwortet der Zeitzeuge mehr als 30 Minute auf eine Frage, woanders wiederum wartet der Zeitzeuge auf die Fragen und macht eigene Themenangebote.
Die vier Zeitzeugen – eine Frau und drei Männer – leben alle seit mehr als 29 Jahren im Raum München. Drei von ihnen sind vor bzw. nach 1961 aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen. Ein Zeitzeuge lebt immer schon in Bayern und hatte enge kirchliche und wirtschaftliche Kontakte in die DDR. Vor allem die weit auseinanderliegenden Geburtsjahrgänge der Zeitzeugen – zwischen 1936 und 1973 – ermöglichen unterschiedliche Blicke auf die DDR.

Mangelwirtschaft und Schrebergärten
Mittagspause. Bis eben haben die Schüler in den Kleingruppen die Interviews ausgewertet und für ihre Mitschüler eine zehnminütige Präsentation ihrer Erkenntnisse und Ergebnisse erarbeitet. Nun stehen sie mit den Zeitzeugen an Bistrotischen und genießen die ungezwungene Plauderei. Nach dem Mittag geben die vier Präsentationen der Schüler ein interessantes Bild der unterschiedlichen Erzählstile, Erinnerungs- und Reflektionsmuster der Zeitzeugen sowie der Abstraktionsfähigkeit der Schüler. Während die einen die Erinnerungen des Zeitzeugen an den Alltag in der DDR schlagwortartig mit „Mangelwirtschaft, Schrebergarten, Tausch, Kulturbund“ zusammenfassen, präsentieren andere die Erkenntnis „keine Matchboxautos in der DDR!“. Ergebnisse, die in allen Präsentationen auftauchen, sind die Zeitzeugenerinnerungen an Grenzkontrollen und die verschiedenen Kontaktmöglichkeiten in die DDR. Thematisiert werden ebenfalls das soziale Zusammenleben und der Alltag in der DDR, dabei vor allem die Frage der Freizeitgestaltung und der Mitgliedschaft in Organisationen. Die Durchherrschung des Staates durch die SED verdeutlicht sich den Schülern anhand verschiedener Geschichten. Auch über die Beschaffung „echter Informationen“ in der DDR wird länger diskutiert.
Im Gegensatz zu ihren Altersgenossen aus den neuen Bundesländern können diese Schüler den Zeitzeugenerinnerungen keine eigenen Familienerzählungen aus der DDR gegenüberstellen. Sie geben das wieder, was sie von den Zeitzeugen erfahren. Ob sie an der DDR etwas gut oder schlecht finden, schätzen sie mit dem eigenen Gefühl ein – oder übernehmen die Meinung der Zeitzeugen, die durch eigene Lebensgeschichten mitunter stark politisch geprägt sind. Die Schüler wissen noch nicht, dass der Zeitzeuge vor dem Hintergrund seiner eigenen Betroffenheit als historische Quelle verstanden werden muss. Der Lehrer der Klasse verfolgt die Präsentationen aufmerksam. Er weiß, dass er nach dem Workshop mit den Schülern die Ergebnisse besprechen und in einen breiteren Kontext stellen muss. Dennoch sieht er die alltäglichen Erlebnisse und Geschichten der Zeitzeugen als gute Ergänzung zum eher politisch-systemischen Ansatz des Geschichtsunterrichts.

Weggehen und Ankommen – Anknüpfungspunkte für verwandte Themen
Besonderes Interesse haben die Schüler an den Erinnerungen der Zeitzeugen zum Weggehen und Ankommen. Was zuvor für die Schüler wie eine Binnenmigration von Ost nach West ohne Sprachbarriere aussah, erklärt sich ihnen nun als ein Schritt mit vielen Verlusten auf der einen Seite sowie Schwierigkeiten, in der neuen Heimat anzukommen. Grade im Kontext der zu erarbeitenden Handreichung zur Praktischen Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft ist dieser Punkt der Deutsch-Deutschen Geschichte für Jugendliche mit eigener Migrationserfahrung oder einer familiären Migrationsgeschichte möglicherweise noch besser nachvollziehbar als für andere Jugendliche. Denn vor allem eigenes Wissen und Erfahren bietet einen guten Anknüpfungspunkt für verwandte Themen.

Ehrfurcht und Lebendigkeit
Die Schüler hatten bisher keine Erfahrungen mit Zeitzeugengesprächen. Auch berichten sie in der Auswertungsrunde, es habe zunächst kaum jemand Lust auf das Projekt gehabt. Am Ende des Workshops erzählen die Schüler, dass sie jetzt mit einem völlig neuen Interesse in die kommenden Geschichtsstunden zum Thema DDR gehen. Gleichwohl wird von einigen Schülern angemerkt, dass sie gern mehr Vorwissen über die DDR gehabt hätten, um die Erzählungen der Zeitzeugen noch besser verstehen und einordnen zu können. Der besondere Eindruck der Lebendigkeit der Geschichtsvermittlung durch die Zeitzeugen wirkt in ihnen nach, betonten die Schüler. Sie hätten gern mehr Zeit gehabt.

Im Kasten
"Praktische Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft"
ist ein Projekt von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. gefördert von und in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für Politische Bildung. Ziel des Projektes ist die Entwicklung eines praxisorientierten Handbuchs für die historisch-politische Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft.
Das Handbuch zur Praktischen Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft soll grundsätzlich in allen Bereichen der historischen Bildung einsetzbar sein. Zielgruppen sind in erster Linie Akteure der historisch-politischen Bildung. Ihnen soll das Handbuch mit Hilfe von methodischen Anleitungen und Materialien Handlungsmöglichkeiten für ein besseres Eingehen auf die Erfahrungen und Bedürfnisse von interkulturellen Schulklassen und Gruppen aufzeigen.
Inhaltlicher Schwerpunkt der Handreichung ist die deutsche Zeitgeschichte. In verschiedenen Themenbausteinen werden wichtige Ereignisse und Themen des letzten Jahrhunderts vertiefend behandelt.
Das Handbuch erscheint Ende 2012 in der Publikationsreihe „Themen und Materialien“ der Bundeszentrale für politische Bildung.
Weitere Informationen unter www.geschichte-einwanderungsgesellschaft.de
Ruth Wunnicke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Praktische Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft“.