Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus

Renate Schmidt

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, den Bestrebungen dem Artikel 20 Grundgesetz eine neue Qualität zu geben durch unterschiedliche Formen der „Direkten Demokratie“ schlagen allerdings Ängste und Widerstand entgegen. Ängste, dass Minderheiten das Sagen bekommen könnten, dass Populismus und nicht Sachverstand bestimmt. Widerstand, weil das Regieren unbequemer werden würde, weil angeblich Bürgerbeteiligung Entscheidungsprozesse weiter verlangsamen würde. Deshalb kommt es auf eine Ausgestaltung direkter Demokratie an, die die Qualität von Politik steigert, einen Gegensatz zwischen repräsentativer, parlamentarischer und direkter Demokratie nicht entstehen lässt, Planungen durch Transparenz und laufende Bürger- und Bürgerinnen-Beteiligung eher beschleunigt als verlangsamt und die Mitbestimmung bei der Auswahl des „politischen Personals“ erhöht. Es geht also um drei Bereiche in denen es größere Beteiligungsmöglichkeiten geben muss:
1. Personalentscheidungen
2. Sachentscheidungen
3. Planungsverfahren

Personalentscheidungen

Derzeit entscheiden maximal 200-300.000 Parteimitglieder der fünf im Bundestag vertretenen Parteien über mindestens 75% der Zusammensetzung des Parlaments. In den meisten Landtagen und Kommunalparlamenten auch. Eine Idee wäre es die Möglichkeiten des Häufeln, des Panaschieren und des Kumulieren, wie es sie auf kommunaler Ebene gibt, auf alle Parlamentswahlen auszuweiten. Denkbar wären außerdem Vorwahlen für die Kanzlerkandidaten und Kanzlerkandidatinnen der Parteien, genauso auch bei der Wahl des Bundespräsidenten, sofern sich der Mut für eine Direktwahl dieses Amtes nicht aufbringen lässt.

Sachentscheidungen

Was die Sachentscheidungen betrifft: Die Qualität von Politik wird durch direkte Demokratie erhöht, weil dadurch für Politikerinnen und Politiker die Notwendigkeit besteht, für ihre Position in einer verständlichen Sprache zu werben und sich nicht hinter ihrem Politikjargon zu verstecken. Hierzu ein positives Beispiel: Vor der Volksabstimmung zu den (europaweit in der Bevölkerung ungeliebten) Maastricht-Verträgen wurden diese von Literaten aus der Bürokratensprache in verständliches Französisch „übersetzt“. Diese Übersetzung war in der Bevölkerung binnen Kurzem vergriffen und musste nachgedruckt werden. In den Sommerferien wurden Franzosen und Französinnen zu Europa-Experten und stimmten, wenn auch knapp, für die Verträge. Natürlich gibt es auch Negativ-Beispiele, wie die Minarett-Abstimmung in der Schweiz. Ich bin aber überzeugt, hätten diejenigen, die für ein anderes Ergebnis waren, für ihre Überzeugung öffentlich gekämpft und sich nicht mehr oder minder versteckt, wäre dieses andere Ergebnis auch möglich gewesen. Direkte Demokratie ist Ergänzung und nicht Gegensatz zu repräsentativer Demokratie, es darf durch ihre Einführung kein Keil zwischen Bürger und Bürgerinnen und die von ihnen gewählten Parlamente getrieben werden. Deshalb muss bei Einführen von Volksinitiative, -begehren und -entscheid auf Bundesebene die Möglichkeit verankert werden, dass jeder dieser Initiativen ein Gegenvorschlag des Parlaments gegenüber gestellt werden kann. Dies ermöglicht, komplizierte Sachverhalte nicht auf einfache Ja/Nein-Entscheidungen reduzieren zu müssen und Kompromisse finden zu können. Selbstverständlich unterliegen auch Volksentscheide der Verfassungsgerichtsbarkeit. Last but not least: Es gibt Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auf kommunaler Ebene, es gibt Verfahren direkter Demokratie in allen Bundesländern und es gibt sie auf europäischer Ebene. Warum soll es sie nicht endlich auch auf Bundesebene geben?

Planungsverfahren

Schließlich zu den Planungsverfahren: Würden Planungen verlangsamt und Großprojekte nicht mehr durchsetzbar? Heute finden Planungen meist in der Weise statt: Ein Ziel wird formuliert, das (große) politische Mehrheiten findet, dann zieht sich die Bürokratie zur Planung ins stille Kämmerlein zurück, um aus diesem mit dem fertigen Plan nach Jahren wieder aufzutauchen – und der Sturm auf den Plan beginnt. Es gibt zwischenzeitlich mehrere, wissenschaftlich erprobte Verfahren, den Sachverstand von Bürgerinnen und Bürgern zu nutzen, sie laufend in Planungen einzubeziehen, ihre Anregungen aufzugreifen oder sie von deren Undurchführbarkeit zu überzeugen, sie also als Verbündete zu gewinnen. Derartige Planungen dauern nicht nur nicht länger, sondern sie minimieren oder beseitigen Widerstände gegen das Planungsergebnis, beschleunigen also die Durchsetzungsmöglichkeiten von Großprojekten. Hinzu kommt, dass die Qualität von Planungen erhöht wird, denn der Sachverstand von Bürgerinnen und Bürgern ist häufig genauso hoch, wie der der Politikerinnen und Politiker. Die Physikerin Merkel, die Juristen Schröder und Stolpe und der Müller Ramsauer verstehen im Übrigen von Bahnhofsplanungen, Erstellen von Windparks oder ähnlichem genauso viel oder wenig wie die derzeit dagegen protestierenden Physiker, Juristen und Müller. Bei den Planungsverfahren geht es darum aus Betroffenen Beteiligte zu machen. Es geht um das Menschenbild, das wir haben, um das Zutrauen zu den Wählerinnen und Wählern. Die sind nicht dumm und wissen sehr genau, wann sie die Politik allein den Politikern und Politikerinnen überlassen können und wann sie darauf bestehen, dass alle Staatsgewalt direkt vom Volk ausgehen soll.

Die Angst vor den Menschen muss durch ein Zutrauen in die Menschen verdrängt werden. Es ist nötig sich selbst als Politiker und Politikerin etwas zuzutrauen, nämlich aufklären zu können und offen zu sein für Vorschläge und neue Ideen. Die Zeit dafür ist überreif!

Renate Schmidt, Bundesministerin a.D., ist Vorstandmitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.