Das Hamburger Wahlrecht. Chaos oder mehr Demokratie für die Wähler?

Hans-Peter Strenge

20 Stimmen für jeden Wähler, vier „Stimmbücher“ dafür durchblättern – die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft, dem Landesparlament, und den sieben Bezirksversammlungen (Stadtteilparlamente) am 20. Februar 2011 hielt durchaus einige Anforderungen bereit ! Und dennoch erreichte eine Partei gegen vier Oppositionsparteien die absolute Mehrheit der Sitze. Also alle Warnungen vor Zersplitterung und Chaos nur Unkenrufe ?

Vor einer Bewertung zunächst einige Fakten:

Von 1949 bis 2004 galt in Hamburg ein reines Verhältniswahlrecht mit Parteilisten. War jemand vom jeweiligen Parteitag auf der Liste oben platziert – ich selbst bei einer Bezirksversammlungswahl 1974 auf Platz 4 einer Volksparteiliste, fein ausgeklügelt nach jung und alt, Mann und Frau sowie rechts und links – konnte bei der eigentlichen Wahl gar nichts schief gehen. Lediglich Kandidaten mit schlechten Listenplätzen mussten zittern. Ob man die Wähler engagiert ansprach, nützte der Partei, aber nicht dem eigenen Stimmergebnis. Und das zu einer Zeit, als überall in Deutschland bei Kommunalwahlen schon kräftig kumuliert und panaschiert wurde.

Zu den Wahlen 2008 wurden auf Landes- und Bezirksebene Wahlkreise eingeführt, neben der Wahlkreisliste gab es aber auf beiden Ebenen die für die Zahl der Sitze entscheidende Landesliste je Partei, an der der Wähler nichts verändern konnte.

Das Neue für 2011 war der Kompromiss mit den Initiativen „für mehr Demokratie“: Auch auf den Landeslisten der Parteien kann der Wähler seine fünf Stimmen auf Kandidaten auf vorderen oder hinteren Plätzen oder gar auf verschiedene Listen verteilen, es sei denn, er macht seine Kreuze ganz oder teilweise in einer gesonderten Reihe nur für die Parteiliste, ohne einzelne Kandidaten zu wählen.

Die letztgenannten Stimmen ändern an der Reihenfolge der Kandidaten nichts.

Beispiel: Nach Abzug der direkt in den Wahlkreisen errungenen Mandate bleiben der x-Partei von den 50 über die Landesliste vergebenen Plätze (71 werden direkt gewählt) 28 und die Hälfte der Wähler hat nur die Partei und nicht einzelne Kandidaten auf der Landesliste angekreuzt. Dann sind die ersten 14 Kandidaten gewählt unabhängig davon, wie viele zusätzliche Einzelstimmen sie noch errungen haben. Bei den restlichen 14 entscheidet die absolute Stimmzahl. So kamen etwa bei der SPD die beiden letzten Kandidaten auf der Liste (Platz 60 und 59) oder solche, die auf einer neuen Seite des Stimmbuchs oben als erste standen, obwohl es sich um Platz 31 handelte, noch ins Parlament . Aber auch Einzelkämpfer mit Extra-Flyern in den Briefkästen oder gutem Standing als bekannte Fachleute in der örtlichen Presse hatten so eine Chance.

Deshalb hat das neue Wahlrecht durchaus mehr Chancen der Mitwirkung eröffnet und wird beim nächsten Mal auch leichter zu handhaben sein: Die Bezirksversammlungswahlen werden nämlich mit der Europawahl zusammengelegt und terminlich von der Bürgerschaftswahl getrennt. Also geht es nur noch je Wahl um maximal 10 Stimmen in zwei Stimmbüchern. Die prominenten oberen Plätze auf den Landeslisten werden sich nicht verändern, solange eine nennenswerte Zahl der Wähler nicht Einzelkandidaten ankreuzt. Immerhin können die Parteien aus den einzelnen Stimmzahlen gute Rückschlüsse auf die Kandidatenrunde bei der nächsten Wahl ziehen. Da nützt dann ein starker Rückhalt „im Hinterzimmer“ nichts mehr.

Ein Nachteil bleibt die Gefahr, dass sich Kandidaten mit einem persönlichen Wahlkampf gegen Parteifreunde und die Parteiorganisation profilieren. Freilich geht das nur einmal, denn auf den Stimmzettel im Wahlkreis oder auf die Landesliste kommt man beim nächsten Mal nur durch ein Votum der örtlichen Parteimitglieder (Wahlkreis) oder des Landesparteitages.

Insgesamt hat das neue Wahlrecht in Hamburg neue Chancen der Einflussmöglichkeiten für die Wahlbürger eröffnet, ein gutes Zeichen für mehr Demokratie !

Hans-Peter Strenge ist Präsident der Synode der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche und Sprecher der RAG Hamburg von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.