Der Nahe Osten, die Medien und die Demokratie

Erik Bettermann

Im Frühjahr hält Deutschland, hält die Welt den Atem an. Gebannt verfolgen die Menschen im Fernsehen, im Internet und in anderen Medien die dramatischen Ereignisse in der arabischen Welt. Der fast gewaltfreie Sturz des langjährigen Machthabers Ben Ali in Tunesien ist wie ein Fanal für die anderen Länder im Nahen Osten. In Tunis zunächst, dann in Ägypten und Bahrain, im Jemen, in Libyen und schließlich in Syrien haben die Menschen genug von der Unterdrückung durch die erstarrten Regime. Mit einem Mal entlädt sich der Druck, der sich über Jahrzehnte aufgestaut hat.
Die junge Bevölkerung verjagt die Diktatoren, erkämpft sich Freiheiten, will demokratische Strukturen und Teilhabe an der Macht. Es scheint möglich zu sein, durch friedliche Proteste, durch die Macht der Straße den politischen Wandel zu erreichen.

Die Ereignisse erinnern an die machtvollen Demonstrationen in Ost-Berlin und Leipzig, Erfurt, Jena und vielen anderen Städten der untergegangenen DDR vor mehr als 20 Jahren. Auch hier das Verlangen der Menschen, die fundamentalen Rechte des einzelnen – Meinungs- und Presse-, Wahl- und Reisefreiheit etwa – endlich wahrnehmen, das gesellschaftliche Leben selbstbestimmt organisieren zu können. Und noch etwas anderes erinnert an das Ende der DDR: In Tunesien und Ägypten stürmen Tausende Demonstranten die Zentrale des Staatssicherheitsdienstes. Auch hier waren die verhassten Behörden Stützen des Regimes, überwachten private und politische Tätigkeiten der Bürger, misshandelten Gefangene, wirkten am Wahlbetrug mit. Nun wollen die Menschen ihre Akten aus den Geheimdienst-Büros herausholen, belastende Dokumente sichern, bevor sie vernichtet werden können. Die Auflösung des Geheimdienstes und die Aufarbeitung der Rolle der Staatssicherheit während der Proteste sind wichtige Forderungen der Reformbewegung.

Wucht und Dynamik der politischen Beteiligung in Nahost kontrastieren auf eigentümliche Weise mit einem Trend zum Unpolitischen hierzulande. Indikator hierfür ist die seit vielen Jahren kontinuierlich sinkende Wahlbeteiligung: Bei den Bürgerschaftswahlen in Bremen lag sie zuletzt nur wenig über 50 Prozent. Qualifiziert dies Deutschland in der arabischen Welt zum Lehrmeister für Demokratie von unten?

Wie damals in der DDR sind es besonders die jüngeren Menschen, die in Tunis, Kairo und anderswo auf die Straße gehen, die tage- und wochenlang Druck machen. Doch es gibt einen Unterschied: Der arabische Frühling wird getragen von der Generation Facebook. Die Digitalisierung der Informations- und Kommunikationstechnik hat neue Möglichkeiten politisch-gesellschaftlicher Partizipation hervorgebracht. Über Facebook, Twitter, YouTube und Blogs organisieren sich die jungen Tunesier und Ägypter, mobilisieren, kommunizieren miteinander und mit dem Ausland.

Die Sozialen Medien waren nicht Auslöser der Demonstrationen. Aber sie haben den Aktivisten ermöglicht, sich zu organisieren, gemeinsam zu einer ernst zu nehmenden Größe zu werden. Ungehinderte Kommunikation ist Voraussetzung für Bürgerengagement und Zivilgesellschaft. Im digitalen Zeitalter hat jeder mit einem Mal die Möglichkeit, auf der öffentlichen Bühne des World Wide Web seine Meinung zu äußern, demokratische Prozesse einzufordern oder sich an ihnen zu beteiligen. „Bürger-Journalisten“ und junge Aktivisten haben sich in den Staaten des Nahen Ostens zu Wort gemeldet, haben über die Realität im Lande berichtet, sich mit Gleichgesinnten vernetzt, national wie international. Das Internet war – und ist – dabei freilich Mittel zum Zweck. Denn eine Tatsache bleibt unbestreitbar: Ohne mutige Menschen, die bereit sind, unter Gefahr für Leib und Leben auf die Straße zu gehen, die die Konfrontation mit den Sicherheitskräften nicht scheuen, gibt es keine Revolution. Auch das haben die Ereignisse in der DDR und den Staaten Osteuropas gezeigt.

Die Artikulation politischer Wünsche und Interessen, ob auf den Straßen oder in den Sozialen Netzen, haben die etablierten Medien aufgegriffen. Vor allem die international agierenden Medien – die panarabischen Satellitenkanäle Al Dschasira und Al Arabija und westliche wie CNN, BBC und Deutsche Welle – spiegeln die Ereignisse, geben ihnen globales Gewicht.
Die DW vermittelt dabei die Werte, für die Deutschland in der Welt steht. In Fernsehen, Hörfunk und Internet informiert sie intensiv über die zivilgesellschaftlichen Prozesse in der arabischen Welt – und zwar in allen 30 Sendesprachen. Denn es interessiert auch in China, Myanmar und Iran, in Lateinamerika und in großen Teilen Afrikas, wie die Menschen in Nahost ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die DW trägt so zur Meinungsbildung der Weltöffentlichkeit bei. Wie wichtig dies ist, hat unlängst die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi aus Myanmar herausgestellt: Soweit die Menschen in ihrem Land überhaupt Zugang zu freien Medien hätten, um sich zu informieren, verfolgten sie die Entwicklungen in der arabischen Welt mit großem Interesse. Die jungen Menschen in Myanmar begriffen allmählich, dass sie ihr Schicksal auch selbst in die Hand nehmen müssten, um Veränderungen herbeizuführen.

Für die Deutsche Welle gehören die Länder zwischen Marokko und Oman zu ihren Kernregionen. 2002 ging die DW als erster europäischer Auslandssender mit einem arabischen TV-Programm auf Sendung, das Radioprogramm existiert bereits seit 50 Jahren. Die langjährige Präsenz in der Region kommt ihr in der aktuellen Krisensituation zugute. Die Menschen kennen und schätzen die Angebote als verlässlich, unabhängig und glaubwürdig. Demokratieaktivisten und andere User aus der arabischen Welt stellen ihre Meinungen und Videos über Demonstrationen und Menschenrechtsverletzungen auch auf der Facebook-Seite des arabischen Onlineangebots der DW ein. Über die Nachricht hinaus sind Einschätzungen aus deutscher und europäischer Perspektive gefragt. Die Menschen wollen wissen, wie Deutschland zu den Entwicklungen steht, wie es sie auf ihrem Weg in Freiheit und demokratische Strukturen unterstützt. Dass die DW dabei auch kritisch über Deutschland berichtet – etwa das Problem stetig sinkender Wahlbeteiligung – macht sie nur glaubwürdiger.

Hohes Interesse finden in der gegenwärtigen Situation Berichte wie der über die Reise eines Vertreters der deutschen Stasiunterlagen-Behörde nach Kairo, um Möglichkeiten der Hilfe für die Demokratiebewegung zu prüfen. Der neue Behördenchef Roland Jahn sagte aus diesem Anlass, der in Deutschland gewählte Weg zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sei „eine Erfolgsgeschichte, an der wir andere Völker gern beteiligen“. Die Unterlagen würden dabei helfen, „die Mechanismen der Diktatur genauer zu erkennen und die neu gewonnene Freiheit zu schützen“. Die DW begleitet die Transformationsprozesse in der arabischen Welt langfristig. Sie macht Angebote, die die Menschen in ihrer Gesellschaft weiterbringen, führt den Dialog auf Augenhöhe. Das reicht von glaubwürdiger, unabhängiger Berichterstattung bis zur Fortbildung von Journalisten. Denn freie, professionelle, glaubwürdige Medien sind ein wichtiger Motor in den Reformprozessen. Sie zeigen, was sich entwickelt, wo es stockt, informieren über den Wettbewerb der Ideen und Meinungen. Und vermitteln so, dass politisches Engagement sich auszahlt.

Die Hypotheken der untergegangenen arabischen Diktaturen Ägypten und Tunesien lasten schwer. Ob der Aufbruch dauerhaft erfolgreich ist, hängt davon ab, ob sich die Generation Facebook, die vielen Millionen junger Menschen, die an eine bessere Zukunft für sich glauben, auch weiterhin politisch engagiert bleibt und die Gesellschaften auf der Reformstraße hält. Die Medien – auch internationale wie die Deutsche Welle – müssen diese Prozesse begleiten und stärken.

Erik Bettermann ist Intendant der Deutschen Welle und Mitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.