Mehr Bürgerbeteiligung, ein Plädoyer für einen neuen Weg

Dieter Althaus

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich mehr Bürgerbeteiligung und die Einführung eines Bürgergeldes positiv verbinden würden. Bürgerbeteiligung ist der Schlüssel dafür, bestehende Mehrheiten für grundsätzliche Reformen deutlich werden zu lassen. Das Bürgergeld wiederum schafft Unabhängigkeit und Spielraum, damit sich die Bürgerinnen und Bürgern umfassend eigenverantwortlich einbringen können. Nach vielen Jahren der ausführlichen inhaltlichen Beschäftigung mit der Thematik Bürgergeld, habe ich vor fünf Jahren die Einführung des SOLIDARISCHEN BÜRGERGELDES vorgeschlagen.  
Grundlage ist ein (partielles) bedingungsloses Grundeinkommen in der Höhe des soziokulturellen Existenzminimums, das jeder Bürgerin und jedem Bürger, unabhängig von Alter und Geschlecht, zusteht. Das Institut für neue soziale Antworten (INSA) hat gezeigt, dass dieses bedingungslose Grundeinkommen den Wertgrundlagen der modernen Gesellschaft entspricht, dass es verfassungskonform umgesetzt werden kann und dass es finanzierbar ist (Solidarisches Bürgergeld – Den Menschen trauen – Freiheit nachhaltig und ganzheitlich sichern; Dieter Althaus und Hermann Binkert; 2. Auflage; Dezember 2010; BoD; ISBN: 9783842331976).

Warum eine so grundsätzliche Reform? Warum die Verbindung zum Thema mehr Bürgerbeteiligung? Nur noch jeder vierte Bürger meint, dass das heutige Sozialversicherungssystem nicht verändert werden muss. Nur noch jeder fünfte Bürger hält die staatliche Unterstützung für Bedürftige für angemessen (FORSA, Oktober 2010). Die Erkenntnis in die Notwendigkeit grundlegender Reformen im sozialpoltischen Bereich ist also vorhanden.
Demnach auf der einen Seite eine klare, mehrheitliche Erkenntnis, dass umfassende Reformen zwingend sind, aber auf der anderen Seite die Mutlosigkeit der Politik zu den notwendigen Reformen.
Mich persönlich haben auch die Erfahrungen mit den Hartz-Gesetzen belehrt.
Ich sehe unsere Unfähigkeit, einen größer werdenden Teil der Gesellschaft zu integrieren. Für mich steht fest, dass wir einen weitergehenden Diskussions- und Entscheidungsprozess brauchen, damit auch im 21. Jahrhundert die Soziale Marktwirtschaft ein Erfolgskapitel schreiben kann. Die ökonomische Globalisierung braucht eine politische Gestaltung. Für Deutschland heißt das, neue Antworten für den Sozialstaat finden und gleichzeitig die Brücke zwischen dem Einzelnem und der Arbeitswelt besser bauen.

Mehr Bürgerbeteiligung kann und wird in diesem Sinn als Katalysator für die Politik wirken. Es wird viel von der angeblichen Politikverdrossenheit der Bevölkerung gesprochen. In Wirklichkeit ist sie eine Politikerverdrossenheit. Sie liegt auch darin begründet, dass sich der Verdacht aufdrängt, dass zu viele Verantwortliche in der Politik mehr die nächste Wahl als die nächste Generation im Blick haben. Nach über 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland und nach den Erfahrungen mit der friedlichen Revolution vor gut zwanzig Jahren in der DDR, ist es an der Zeit, die parlamentarische Demokratie durch direktdemokratische Elemente zu ergänzen. Das bietet dann auch die Möglichkeit, Bürgerinnen und Bürger unseres Landes über grundsätzliche Fragen abstimmen zu lassen. Viele Wählerinnen und Wähler und viele Andere, die bisher nicht mehr an Wahlen teilnahmen, könnten über mehr Bürgerbeteiligung zusammen die Kraft aufbringen, unserem Land einen Reformschub zu geben. Dieser ist dringend notwendig. Die Parteien wären dann auch existenzieller gezwungen, tiefgründige Gesellschaftsdebatten zu führen und grundlegende Entscheidungen vorzubereiten. Ein solcher Weg der öffentlichen Meinungsdebatte und Entscheidung würde auch den Medien gut tun.

Es geht um die Freiheit und um eine lebendige Demokratie. Mehr Bürgerbeteiligung emanzipiert die Bürgerinnen und Bürger zur stärkeren praktischen Beteiligung. Das Bürgergeld macht die Bürgerinnen und Bürger unabhängiger, weil Hilfe zur Selbsthilfe herausfordert und motiviert wird.
Ich kann  für diesen Weg nur leidenschaftlich werben. 

Dieter Althaus ist ehemaliger Ministerpräsident des Landes Thüringen und Vorstandsmitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.