Mitteilungen

Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. gratuliert seinem Gründungsvorsitzenden Dr. Hans-Jochen Vogel zum 90. Geburtstag

Auszüge aus der Rede Dr. Hans-Jochen Vogels zur Eröffnungsveranstaltung von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. am 1. November 1993 in Bonn

Foto: Tobias Kleinod

Anlässlich seines 90. Geburtstags werden an dieser Stelle Ausschnitte aus der Rede Dr. Hans-Jochen Vogels zur Eröffnungsveranstaltung von Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. am 1. November 1993 in Bonn wiedergegeben:

 

Demokratie braucht engagierte Bürgerinnen und Bürger

Ich beginne mit einigen sehr nüchternen Feststellungen. Sie lauten:

Seit Anfang 1991 sind nach offiziellen Angaben in der Bundesrepublik bei 4 761 rechtsextremistischen Gewalttaten 26 Menschen ermordet oder sonst getötet und 1 783 Menschen verletzt worden. 16 der Getöteten waren Ausländer, mehr als zwei Drittel der Täter junge Menschen unter 20 Jahren. 1 281 Mal wurden Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte und Wohnungen ausländischer Mitbürger verübt. 209 Mal richteten sich die Anschläge gegen jüdische Einrichtungen, davon 112 gegen jüdische Friedhöfe. Mindestens 13 Mal wurden KZ-Gedenkstätten geschändet. Die jüngsten Anschläge liegen erst wenige Tage zurück.

Ich gestehe: Mir gehen diese Fakten unter die Haut. Sie bedrücken und beschämen mich. Und ich bin sicher: Sie empfinden das nicht anders.

Die Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock, die Morde von Mölln und Solingen sind Glieder dieser Kette. Sie vor allem haben erkennen lassen, in welchem gedanklichen Umfeld diese Gewalttaten wurzeln. Und sie haben schlimme Erinnerungen geweckt. So die Erinnerung daran, dass schon einmal in diesem Jahrhundert eine deutsche und europäische Katastrophe damit begann, dass Minderheiten verteufelt und zuerst zu Sündenböcken und dann zu Freiwild erklärt, dass Rassenwahn und Rassenhetze gepredigt und geschürt, dass Gewalttaten als Mittel der Politik propagiert und verherrlicht wurden. (…)

Und es gibt ja bedrückende Rechtfertigungsversuche für das Geschehen. Und schlimme Parolen und Liedertexte, in denen ganz offen zu Mord und Völkerhass aufgerufen wird. Und es gibt mitten unter uns Menschen, die solche Gewalttaten mit klammheimlicher Freude oder sogar mit offenem Beifall begleiten. Aber – und das ist der wesentliche Unterschied zu damals – Millionen von Mitbürgerinnen und Mitbürgern finden sich damit nicht ab. Sie haben mit Lichterketten oder auf andere Weise gegen Gewalt und für Demokratie und Menschenrechte demonstriert. (…)

Diese Menschen verlangen, dass der Staat die Machtmittel, die ihm nach Recht und Gesetz zur Verfügung stehen, entschlossen einsetzt. Und natürlich verlangen sie auch, dass die Politik ihre Pflicht tut, dass sie die Missstände beseitigt, die die Extremisten verantwortungslos ausbeuten, dass sie die Sorgen der Menschen ernst nimmt und dass die Politiker so handeln, wie sie reden – auch im persönlichen Bereich.

Aber das ist nicht genug. Es reicht nicht, von anderen etwas zu verlangen. Unser Staat, unser demokratisches Gemeinwesen, ist kein Dienstleistungsunternehmen, für dessen Aktivitäten wir bezahlen und um das wir uns sonst nicht zu kümmern haben. Die Demokratie lebt vielmehr vom Engagement der Mitverantwortung ihrer Bürgerinnen und Bürger. Darum muss sich jeder selbst fragen, was er unternehmen kann, um der Gefahr zu begegnen.

Über 280 Frauen und Männer haben auf ihre Weise genau dies getan. Sie haben sich aber nicht nur gefragt. Sie haben sich vielmehr an die alte Erfahrung erinnert, dass diejenigen, die die Lehren der Geschichte vergessen, dazu verurteilt sind, sie ein zweites Mal zu erleben. Deshalb haben sie sich zu dem Projekt „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ zusammengeschlossen. Dabei haben Parteigrenzen ebenso wenig eine Rolle gespielt wie andere Unterschiede oder Gegensätze, die Menschen sonst trennen mögen. Uns geht es nicht um Einzelinteressen oder Gruppeninteressen. Uns geht es um die Bewahrung und Verteidigung dessen, worauf unser Gemeinwesen insgesamt beruht. Und auch um den Beweis, dass Menschen in dieser Zeit lautstarker Konfrontationen einer solchen Gemeinsamkeit fähig sind.

Mit der heutigen Veranstaltung wollen wir (…) dartun, was nach unserer Ansicht vor dem Vergessen bewahrt bleiben muss und wie das geschehen soll. (…)
Dabei geht es gerade nicht um die Tabuisierung der jüngeren Geschichte, wie missverständlicherweise in letzter Zeit da und dort gesagt wird, sondern darum, sie so, wie sie sich abgespielt hat, auch im Bewusstsein der jüngeren Generation zu halten und dadurch die Kräfte der Demokratie zu stärken. Und zur jüngeren Geschichte gehört bei allen Leistungen und Fortschritten unseres Volkes in den Jahrzehnten seit 1945 – ohne vordergründige Gleichsetzung – die NS-Gewaltherrschaft ebenso wie die 40 Jahre, in denen ein kommunistisches System in einem Teil Deutschlands die staatliche und gesellschaftliche Macht ausübte. (…)

 

Dr. Hans-Jochen Vogel ist Gründungsvorsitzender und leitete von 1993 bis 2000 die Geschicke des Vereins.