Das Erinnern der Zeit anpassen

von Ilse Okken

"Wie erinnern wir und wozu" – lautete das Thema einer Gesprächsrunde im Ratssaal von Ritterhude. Mehrere Referenten hatte Bürgermeisterin Susanne Geils dazu eingeladen. Menschen, die das Thema aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln angegangen sind.

Ritterhude. Seit fast 25 Jahren werden in der Gemeinde Ritterhude Jugendliche beim Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus mit einbezogen. Im Dialog mit Schulen, Vereinen und Verbänden und dank des Engagements von Reinhard Egge vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist es gelungen, sie in die Gestaltung der Gedenkfeiern einzubinden und neue Wege zu gehen. Zwei Tage nachdem der Rat der Gemeinde Ritterhude einstimmig den Beschluss gefasst hatte, die langjährigen Aktivitäten der Schulen zur Entwicklung und Förderung des Geschichtsbewusstseins weiter zu fördern, fand im Ratssaal eine Gesprächsrunde unter dem Motto "Wie erinnern wir und wozu?" statt.

Aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchteten die Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck und der Zeitzeuge Detlef Hosenfeld sowie Christel Trouve (Bunker Valentin, Farge) die Themen Nationalsozialismus und Erinnerungskultur. Der Journalist und Autor Hermann Vinke moderierte die Veranstaltung. Bürgermeisterin Susanne Geils als Gastgeberin begrüßte über 30 Zuhörer, darunter viele Ratsmitglieder, zwei Jugendliche sowie Vertreter von Kirchen, Heimatvereinen, und Präventionsrat. Abgesandte der Schulen waren nicht anwesend, was viele bedauerten.

Mit der Schilderung ihrer Wandlung von der idealistischen Pazifistin zur überzeugten Verteidigerin der Menschenrechte, für die Militäreinsätze nicht mehr tabu sind, spannte Beck den Bogen vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart. Kein Land habe sich, so intensiv seiner Geschichte gestellt wie Deutschland; wenn auch nicht freiwillig, wie sie mit Blick auf die Nürnberger Prozesse bemerkte.

Bis 1983 habe sie aus tiefer Überzeugung und im Wohlgefühl der "bessere Mensch zu sein" die Devise "lieber rot als tot" vertreten und gegen die Stationierung von Pershing-Raketen protestiert. Die Wende kam für sie 1992/93 mit dem Bosnienkrieg und dem Völkermord in Ruanda. Das Massaker von Srebenica als "Sündenfall Europas" verdeutlichte ihr die Parallelen: assimilierte Juden im Deutschland vor 75 Jahren ebenso wie muslimische Bosnier der 1990er-Jahre im ehemaligen Jugoslawien wurden auf ihre ethnische Zugehörigkeit reduziert und vernichtet. Zum Umdenken führte bei ihr auch das Dilemma der dort stationierten niederländischen Blauhelme, die nur sich selbst verteidigen durften, während sie zusehen mussten wie ihre "Schützlinge" erschossen wurden. Das von Kofi Annan vertretene Prinzip der Schutzverantwortung (Responsibility to protect) habe als Selbstverpflichtung, Menschenrechtsverletzungen aktiv entgegen zu treten, die Losung "Nie wieder Krieg" abgelöst.

Die historische Schuld dürfe nicht dazu führen, dass man sich nicht mehr in Gefahr begebe, um andere zu schützen, resümierte sie. Allerdings sei die Chance, sich dabei in die Nesseln zu setzen, groß. Mit Zitaten aus Henryk M. Broders Buch "Vergesst Auschwitz!" streifte sie mit den Stichworten Gaza, Iran und Atombombe die aktuelle Diskussion über Israel. Je länger der Holocaust zurückliege, könne man sich im Gedenken an Auschwitz gut einrichten. Wer sich aber für das heutige Israel engagiere, bekomme die volle Breitseite, gab sie zu bedenken.

In berührenden Worten schilderte anschließend Detlef Hosenfeld den Lebens- und Leidensweg seines Vaters. Der idealistische ehemalige Wandervogel und Anhänger der Reformpädagogik Wilm Hosenfeld rettete als Soldat in Warschau viele Juden und kam nach dem Krieg in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager um. Die Interventionen seiner Familie und der von ihm Geretteten blieben erfolglos. Die Geschichte des von ihm geretteten Musikers Wladyslaw Szpilman hat Roman Polanski vor zehn Jahren in seinem Film "Der Pianist" verfilmt.

Die Spur nach Ritterhude führt über den Golm. Dort wurde 2007 auf dem Gelände der Jugendbegegnungsstätte des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge (Insel Usedom) ein Wilm-Hosenfeld-Platz eingeweiht. Schüler aus Ritterhude begegneten dort polnischen Jugendlichen und machten sich gemeinsam auf die Spurensuche nach Flüchtlingen, die im März 1945 nach dem Bombenangriff auf Swinemünde in Ritterhude eine neue Heimat fanden. Von diesen Grenzerfahrungen berichteten sie am Volkstrauertag.

Den Denkort Bunker Valentin stellte Christel Trouve vor. Mit Führungen wolle man die Besucher befähigen, dort auf Spurensuche zu gehen und ihnen Gesprächsangebote machen. Inhaltliche Schwerpunkte sind die Geschichten der Zwangsarbeiter und die Situation auf der Großbaustelle in Farge 1943. In Projekten haben Schüler sich dort intensiv mit der Geschichte der U-Boot-Bunker-Werft Valentin in Farge als Tatort auseinander gesetzt und zum Beispiel später ihre Eltern selbst durch die Gedenkstätte geführt oder sich künstlerisch (Theaterstücke, Filme, Radiofeatures) angenähert. Sie sollen zu Fragen angeregt werden und dazu, die Handlungsspielräume der damals dort lebenden Menschen auszuloten.

Nachmittags ging es dann "ans Eingemachte" wie Hermann Vinke es ausdrückte. Rituale seien wichtig und sollten weiterhin beibehalten werden meinte man mit Blick auf den Volkstrauertag. Darüber hinaus sei es nötig, zukunftsgerichtet neue Wege der Erinnerungskultur zu entwickeln, so die Bürgermeisterin. Gute Ansätze seien bereits vorhanden, waren sich die Anwesenden einig.

Die spannende, ergebnisoffene Herangehensweise bei den Mitarbeitern am Bunker Valentin wurde als beispielgebender Impuls angesehen. Jugendliche müssten Gelegenheit bekommen, selbst Fragen zu stellen und in der Begegnung mit anderen Völkern Erfahrungen zu sammeln. Vielleicht müsse man das Erinnern erst wieder lernen. Schließlich werde man auch nicht als Widerständler geboren, wie das Beispiel Wilm Hosenfelds zeige, meinte der im Ruhestand befindliche Pastor Wulf Traugott Kruse.

Von den Denkmalen des Ortes bis zu den Denkorten in Farge, Sandbostel oder auf dem Golm gebe es viele Anknüpfungspunkte. "Die Spur der Steine weist den Weg", so Hermann Vinke. Man müsse lernen, Geschichte als "normal" anzunehmen und Bescheid wissen. Sonst sei Auschwitz eine "Keule"" schloss er.

Abruck mit freundlicher Genehmigugn der Autorin und des Weser Kuriers
Quelle: Weser Kurier vom 17.07.2012
Foto: Blickten zurück, um die Erinnerungskultur voranzubringen (von rechts): Christel Trouve, Marieluise Beck, Reinhard Egge, Detlef Hosenfeld und Hermann Vinke © Oki- Okken