„Nie wieder!“ Nie wieder? Verantwortung zum Schutz vor Krieg und Massengewalt

Ansprache von Winfried Nachtwei bei der Gedenkstunde für den Frieden am Volkstrauertag 2015 im Rathaus der Stadt Greven

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Vennemeyer,

sehr geehrte Damen und Herren,

 

die Terrorangriffe, die Massaker von Paris geschahen zu einer Zeit und an Orten, wo ganz normale Menschen Lebensfreude suchten.

Den Opfern, den körperlich und seelisch Verletzten, den Hinterbliebenen, der französischen Bevölkerung gilt unser tiefstes Mitgefühl – verbunden mit dem inständigen Wunsch, dass die Staaten und ihre Bürger darauf

- wirklich gemeinsam,

- als wehrhafte Demokratien

- und mit Klugheit – anders als nach dem 11. September 2001 - reagieren!!

 

Am heutigen Volkstrauertag

wird bundesweit der Opfer der Kriege und Gewaltherrschaften gedacht.

Im Mittelpunkt steht das menschliche Erinnern an die Frauen, Männer und Kinder, die im Krieg und durch politische Gewalt erschossen, zerfetzt, verbrannt, vergast, durch Hunger, Kälte, Zwangsarbeit ermordet wurden. Im Mittelpunkt steht die menschlich-politische Frage nach dem WARUM und vor allem nach den KONSEQUENZEN.

 

Orte, Beispiele …

Die Grevener Straße rein nach Münster, Steinfurter Str., am Nordrand des Schlossplatzes (früher Hindenburgplatz) das Kommandogebäude des Deutsch-Niederländischen Korps, zur Kriegszeit Sitz des Befehlshabers im Wehrkreis VI (Rheinland und Westfalen). Von dort wurden 14 Divisionen in den Krieg gegen die europäischen Nachbarn geschickt.

Zum Beispiel die 16. Panzerdivision mit Garnisonen u.a. in Münster und Rheine, mit Soldaten wohl auch aus dem Raum Greven. Die Division war beteiligt am Angriffskrieg gegen die Sowjetunion, im Südabschnitt an mehreren Kesselschlachten, so der von Kiew, wo Hunderttausende Sowjetsoldaten in deutsche Gefangenschaft gerieten. Die meisten verloren in der Gefangenschaft ihr Leben. Hinter den Fronttruppen rückten die Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD vor, Kommandotrupps für den mobilen Massenmord an den ukrainischen, (weiß-)russischen und baltischen Juden. Die 16. Panzerdivision erreichte im August 1942 als erster Wehrmachtsverband die Wolga bei Stalingrad. Im November, vor genau 73 Jahren, lagen schon 4.000 ihrer Soldaten auf dem Divisionsfriedhof an einer Bahnlinie in Nord-Stalingrad. Nur 128 Überlebende der Division kehrten Jahre später in die Heimat zurück. (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1187 )

Ein anderer Ort im Münsterland: die Villa ten Hompel am Kaiser-Wilhelm-Ring in Münster, zur Kriegszeit Sitz des Befehlshabers der Ordnungspolizei im Wehrkreis VI. Er war u.a. zuständig für die Stellung von Begleitmannschaften für die Deportationszüge aus Westfalen und dem Rheinland nach Riga. Am 13. Dezember 1941 wurden knapp 400 jüdische Menschen, frühere Nachbarn von nebenan, aus dem ganzen Münsterland in das „Reichsjudenghetto“ Riga verschleppt, dort geschunden und gequält. Die meisten wurden am Stadtrand im Wald von Bikernieki erschossen. Riga war – das war lange unbekannt – das „Auschwitz der westfälischen Juden“.

Wir gedenken heute auch der Opfer von Krieg und politischer Gewalt nach dem 2. Weltkrieg: zum Beispiel der 10.000 Zivilisten, die 1992-1995 bei der Belagerung Sarajevos umgebracht wurden; der Soldaten der Bundeswehr, die beim UN-mandatierten Einsatz in Afghanistan ums Leben kamen, der steigenden Zahl an Kriegsopfern in jüngster Zeit in Afghanistan, 1.600 Ziviltote allein im ersten Halbjahr 2015; der Opfer der bekannten und vergessenen Kriegsschauplätze.

 

„Nie wieder!“ Nie wieder?

Wer an den 55 Massengräbern in Bikernieki stand, wo über 30.000 Menschen ermordet worden sind, oder auf dem Soldatenfriedhof Ysselstein bei Venlo mit seinen über 31.500 Grabkreuzen (mit den Todesjahren vieler junger Männer), der spürt:

Was so unfassbar ist, was sich nicht mehr ändern lässt, das darf wenigstens nicht vergessen werden! Bloß nicht wieder so ein Wahnsinn! Nie wieder!

Und dann sieht man abends die Fernsehnachrichten, gerade in den letzten Jahren und Monaten: andauernd Nachrichten von Kriegen, von Terroranschlägen, von Massenflucht.

Da drängt sich die Frage auf: Hat die Menschheit eigentlich nichts gelernt?

 

Zentrale, oft vergessene Lehren

Vor 70 Jahren befreiten alliierte Truppen Europa, Deutschland, uns vom Naziterror.

Zentrale Lehren zogen die Staaten und Völker aus dem Menschheitsverbrechen:

-          In Westdeutschland entstand das Grundgesetzt mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde, dem Friedensauftrag; die Westintegration, die Aussöhnung mit Frankreich, die europäische Integration.

-          Die Gründung der Vereinten Nationen vor genau 70 Jahren, die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung, das internationale Gewaltverbot; die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, der Internationale Strafgerichtshof ab 1998.

-          Seit 1975/1995 die Konferenz/Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (K/OSZE), die maßgeblich zur friedlichen Auflösung des Ostblocks und zur Überwindung der Ost-Westkonfrontation beitrug.

Die UN wurden „nicht gegründet, um der Menschheit den Himmel zu bringen, sondern um sie vor der Hölle zu bewahren“, so ihr zweiter Generalsekretär Dag Hammarskjöld. Vor diesem Hintergrund waren die UN mit ihren Sonderbeauftragten, mit ihren Blauhelmmissionen und Sonderorganisationen viel erfolgreicher, als oft wahrgenommen:

-          In den 50er und 60er Jahren verhinderten Blauhelmmissionen in fünf Krisenregionen eine weitere Gewalteskalation (z.B. im Libanon, zwischen Indien und Pakistan).

-          UN-Generalsekretär Kofi Annan erklärte 2005, dass in den 15 Jahren zuvor so viele innerstaatliche Konflikte zum Stillstand gebracht worden seien wie in 200 Jahren zuvor –vor allem mit Hilfe der UN. In den 90er Jahren sank die Zahl der Bürgerkriege weltweit um 40%.

 

Aber

Ruanda April 1994: Binnen drei Monaten wurden über 800.000 Menschen abgeschlachtet. Der kanadische Blauhelmgeneral hatte gewarnt und Verstärkung angefordert. Er wurde nicht erhört. Ein Völkermord mit Ankündigung, der hätte verhindert werden können.

Srbrenica in Bosnienim Sommer 1995: Ermordung von 8.000 Männern und Jungen der UN-Schutzzone. Die Staaten verweigerte auch hier eine rechtzeitige Verstärkung der (niederländischen) Blauhelme.

Aus diesem Großversagen der Staaten“gemeinschaft“ erwuchs die sogenannte Schutzverantwortung (Responsibility to Protect):

Die Pflicht der Staaten, ihre eigenen Bevölkerung vor schlimmsten Massenverbrechen zu schützen (Völkermord, ethnische „Säuberungen“, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen). Wenn die Staaten nicht fähig oder willens sind, diese Verantwortung wahrzunehmen, steht die Staatengemeinschaft in der Verantwortung, den Schutz vor Massenverbrechen zu unterstützen, im äußersten Fall durchzusetzen.

Bei der UN-Generalversammlung 2005 beschlossen die versammelten Staats- und Regierungschefs die Schutzverantwortung – ein großer zivilisatorischer Fortschritt!

 

Zehn Jahre später, heute

Seit 2008 wuchs die Zahl der innerstaatlichen Kriege von vier auf elf. (Die Zahl der Terroropfer weltweit stieg in 2014 um 80% auf 32.700, 78% davon in den fünf Ländern Irak, Nigeria, Afghanistan, Pakistan und Syrien. Im Jahr 2000 fielen 3.300 Menschen Terrorattacken zum Opfer. 2,6% der Terroropfer seitdem entfiel auf den Westen. Nach Global Terrorism Index 2015, http://economicsandpeace.org/wp-content/uploads/2015/11/Global-Terrorism-Index-2015.pdf )

Humanitäre Großkatastrophen der höchsten Stufe gibt es zzt. in Syrien, Irak, Yemen und Süd-Sudan, bis vor wenigen Monaten auch in der Zentralafrikanischen Republik, andere Länder sind auf der Kippe. Flüchtlinge gibt es so viele wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg, Tendenz weiter steigend. Der Bedarf an humanitärer Nothilfe ist seit 2004 um 600% gestiegen. Im Yemen wurde nur 13% des Hilfsbedarfs von den Staaten geliefert. (http://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3-CF6E4FF96FF9%7D/s_2015_730.pdf )

 

Warum?

Es gibt viele, von Land zu Land verschiedene Gründe.

Aber es gibt auch Gründe, die immer wieder auftauchen, die auch in den 30er Jahren gegenüber dem erstarkenden Nazi-Deutschland eine zentrale Rolle spielten. Immer wieder gibt es Hell- und Weitsichtige, die vor wachsenden Gefahren für Menschen- und Minderheitenrechte und für den Frieden warnten. Zum Beispiel der US-Botschafter William Dodd 1933-1937 in Berlin. In Washington fand er wenig Gehör. Fixiert auf kurzfristige Interessen nahmen Regierungen und Öffentlichkeiten solche Frühwarner immer wieder nicht wahr. Obwohl es heute mehr und bessere Instrumente gibt, hält die mangelhafte Frühwarnung und Vorbeugung bis heute an.

Hinzu kommt eine regelrechte Ignoranz gegenüber Menschen, Projekten und Politikansätzen, die für Gewaltverhütung und Friedensförderung stehen und arbeiten.

Zum Beispiel die Tage der Peacekeeper im Mai/Juni, eingeführt von den UN, seit drei Jahre auch in Deutschland begangen. Hier trafen Hunderte Friedenspraktiker in Zivil, in Militär- und Polizeiuniformen zusammen. Es waren jedes Mal ermutigende friedenspolitische Großereignisse – von den überregionalen Medien durchweg nicht wahrgenommen.

Zum Beispiel vor einem Monat in Berlin ein Festakt zu 70 Jahren UN, Altbundespräsident Horst Köhler hielt eine große Rede, selbstkritisch auch zur westlichen Politik, zugleich Mut machend. Kein einziges Wort und Bild dazu in den Medien! Immer und immer wieder „good news are bad news“. (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1375 )

Die sich häufende und näher rückenden Krisen und Kriege, sie können wahrlich Angst machen, ja deprimieren.

Umso wichtiger ist, die Friedenschancen und Friedensmacher zu erkennen, bekannt zu machen, zu unterstützen. Es gibt sie erstaunlich oft auch in Konfliktgebieten. Vielen bin ich auf dem Balkan, im Kongo, in Afghanistan begegnet, bewundernswert starken Menschen, die Hoffnung machen.

Chancen nutzen, trotz alledem und immer wieder!

Ausgesprochen hoffnungsvoll ist, wie viele Menschen heute bei der Hilfe für Kriegsflüchtlinge anpacken.

(Flyer https://www.greven.net/freizeit_kultur_tourismus/kultur/volkstrauertag-2015.php ; Bericht der Westfälischen Nachrichten/Greven http://www.wn.de/Muensterland/Kreis-Steinfurt/Greven/2177897-Volkstrauertag-In-Gedanken-in-Paris ; Ergänzungen ggb. der mündlichen Fassung kursiv)