Oradour-sur-Glane – zum 70. Jahrestag

von Andrea Erkenbrecher

Blick in die ehemalige Konditorei Compain am Marktplatz von Oradour-sur-Glane.

Oradour-sur-Glane ist nicht nur ein Ort. Oradour, das sind zwei Orte und ein Sinnbild. „Ein »Oradour«“, so schreibt der Philosoph Jean-Jacques Fouché, „bezeichnet ein Massaker an einer schutzlosen Zivilbevölkerung durch eine Militäreinheit.“ Als doppelter Ort bezeichnet Oradour zum einen die Ruinen des am 10. Juni 1944 zerstörten Dorfes Oradour-sur-Glane. In wenigen  Nachmittagsstunden hatte eine Einheit der SS-Division „Das Reich“ den französischen Ort in der Nähe von Limoges in Schutt und Asche gelegt und nahezu alle im Ort befindlichen Menschen getötet. 642 Menschen wurden ermordet, darunter in der Mehrzahl Frauen und Kinder, die in der Ortskirche zum Teil bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Die Männer waren vorher in Garagen und Scheunen erschossen worden. Anschließend wurde das Dorf niedergebrannt. Die Ruinen wurden verstaatlicht, zum historischen Monument ernannt und Oradour in Frankreich zum Symbol des Leidens der Franzosen unter der deutschen Besatzung. Die Überreste des Dorfes stehen bis heute, 300.000 Personen besuchen sie jährlich. Oradour ist zum anderen auch ein neuer Ort, nach dem Massaker nur wenige hundert Meter entfernt von den Ruinen gebaut. Das zunächst nur spärlich besiedelte Dorf hat sich zunehmend gefüllt, heute leben in der Gemeinde Oradour 2.200 Menschen. 

An diesem 10. Juni 2014 gedenkt man in Oradour in Anwesenheit des französischen Premierministers Manuel Valls dem schrecklichen Geschehen vor 70 Jahren: Den Kindern, Geschwistern, Müttern, Vätern und Freunden, die die Überlebenden und Hinterbliebenen an jenem Tag verloren haben und all dem, was mit ihnen gegangen ist.

Man begegnet in Oradour wie an allen Gedenkorten des Zweiten Weltkrieges heute der Problematik, dass die Ära der Zeitzeugen zu Ende geht. Dabei hat man in Oradour noch Glück. Von den noch lebenden Überlebenden sind viele noch  bei erstaunlich guter Gesundheit: Robert Hébras, dem man seine fast 90 Jahre nicht ansieht und der unablässig für Erinnerung und Versöhnung eintritt; Camille Senon, die ihr Leben dem Kampf für Gerechtigkeit gewidmet hat und im hohen Alter die Würde einer Grande Dame und einen noch immer messerscharfen Verstand besitzt; Jean-Marcel Darthout, dem das Gehen schwer fällt, der aber noch immer Gäste und Interessierte bei sich empfängt, um von seinen Erfahrungen zu erzählen. Auch Jacqueline Pinède ist noch am Leben. Sie war mit ihren Geschwistern aus dem brennenden Dorf geflohen und von einem deutschen Soldaten dabei durch die Postenkette gelassen worden. Da sind außerdem – und lange vernachlässigt – Jacques Boissou, der 1944 im Kugelhagel über Felder und Wiesen um sein Leben rannte, sowie die drei Töchter Villeger: Damals zwei, zehn und 14 Jahre alt kauerten sie mit ihrer Mutter den Nachmittag und die Nacht des 10. Juni hindurch in einem Busch, während die Soldaten wenige Meter weiter ihr Haus plünderten, in ihrem Hof aßen und tranken, um schließlich alles niederzubrennen.

Es wird kein hoher Vertreter des deutschen Staates neben Manuel Valls und den Überlebenden durch die Ruinen gehen an diesem 70. Jahrestag. Vielleicht ist dies auch nicht nötig. Noch steht Oradour ganz unter dem Eindruck des Besuchs von Joachim Gauck im September 2013 und gleichzeitig in Erwartung eines Prozesses, der möglicherweise vor dem Landgericht in Köln gegen einen der mutmaßlichen Täter eröffnet wird.

Dass 69 Jahre nach dem Massaker der deutsche Bundespräsident diesen Ort des Grauens besuchte und dass die deutsche Justiz die Nicht-Verjährbarkeit von Mord auch in Fällen von so lange vergangenen Kriegsverbrechen ernst nimmt und ein Verfahren führt, zeigt zweierlei: Deutschland stellt sich der NS-Vergangenheit auf diesen Ebenen auch noch oder gerade heute, es gibt Justizvertreter und Politiker, die die Opfer, ihre Leiden und die daraus resultierende deutsche Verantwortlichkeit ernst nehmen. Beides wird in Oradour in der Mehrheit mit großer Genugtuung und Zustimmung gesehen. Renée Maneuf, damals eines der drei Villeger-Mädchen in Todesangst, ist heute eine alte Dame, die noch immer schwer an dem trägt was sie an jenem Tag erlebte, am Verlust ihres Vaters und ihrer vier Brüder und an dem unfassbaren Horror, den sie in den Tagen nach dem Massaker in den Ruinen Oradours sehen musste. Wenn sie nun darüber spricht, wie ihr der deutsche Bundespräsident zuhörte, wie er sie ansah, was sie dabei empfand, so kann man nicht umhin, Joachim Gauck zu danken, für diese späte Anerkennung, die er René Maneuf hat zukommen lassen. Man kann nicht umhin, das pathetisch wirkende und dennoch vollkommen zutreffende Bild des „ein Stück weit heil machen“ zu benutzen.

Das aktuelle Oradour-Verfahren und Joachim Gaucks Besuch im village martyr der Franzosen verweisen aber auch auf Folgendes: Dass es nämlich 69 Jahre, also nahezu die Dauer eines Menschenlebens, brauchte, bis es dazu kam: Kein deutscher Bundeskanzler oder Bundespräsident hat vorher je diesen Ort betreten, keines der bundesdeutschen Ermittlungsverfahren in der Causa Oradour hatte bislang zu einer Anklage geführt. Nahezu alle hohen Ränge der Einheit sind straffrei davon gekommen. Vor allem letzteres ist empörend. Was die juristische Ahndung des Verbrechens im Land der Täter anbelangt und den symbolischen Umgang mit dem Ort in der Versöhnungsfrage ist – sagen wir es deutlich – alles andere als ein Ruhmesblatt des deutschen Umgangs mit der NS-Vergangenheit. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Bundesrepublik sondern auch für die DDR. Dort kam es zwar zu einem Prozess gegen einen ehemaligen Zugführer der Einheit und der Name Oradour und das dortige Geschehen wurden nicht schreckhaft umgangen und tabuisiert wie im westdeutschen Nachbarstaat. Die durchgehend politische Instrumentalisierung des Ortes und das Leiden seiner Bewohner ist jedoch frappierend und schlicht als würdelos zu bezeichnen.

Nun liegt die Aufgabe des Historikers in erster Linie darin, die Genese solcher Tatsachen zu erforschen, nicht sie zu bewerten. Beides, die lange ausgebliebene Versöhnungsgeste auf höchster staatlicher Ebene und ein bislang ausgebliebener Prozess in der Bundesrepublik, ist aus den Umständen ihrer Zeit heraus zu erklären. Dies macht sie vielleicht nicht weniger ertrag- aber doch verstehbar.

Die starke Fokussierung, sowohl von Seiten Oradours, wie auch der Forschung auf die so lange ausgebliebene große Geste und strafrechtliche Ahndung von bundesdeutscher Seite hat jedoch dazu geführt, dass viel anderes aus dem Blick geraten ist. Es ist nämlich bei weitem nicht so, dass Oradour in den letzten 70 Jahren ein non-lieux deutsch-französischen Versöhnung gewesen wäre. Allein, die Ebenen auf der diese gesucht wurde, ihre Erfolge und Dimensionen sind anders als das, was ein Bundespräsidentenbesuch vielleicht zu erreichen vermag.

Auf privater und zivilgesellschaftlicher Ebene war Oradour in den letzten 70 Jahren immer wieder ein Ort, an dem Deutsche Versöhnung gesucht haben: Jugendliche boten an, beim Aufbau des Dorfes mitzuhelfen; Schüler sammelten Geld für einen Baum im neuen Schulhof von Oradour; deutsche Opferverbände luden zum Austausch ein; Gläubige pilgerten nach Oradour und hielten dort Versöhnungsmessen; eine Schulpartnerschaft wurde errichtet; ein deutsch-französisches Konzert in der Kirche des neuen Oradours ausgerichtet; Freundschaftsspiele zwischen den Fußballmannschaften aus Dachau und Oradour ausgetragen...

Bevor sich die Lokalpolitik in Oradour 1995 dahingehend änderte, solche Gesten offiziell anzuerkennen indem man die Versöhnungssucher offiziell empfing, fanden viele dieser Gesten im Stillen statt. Sie sind in der Mehrheit auch nicht in das kollektive Gedächtnis Oradours eingegangen. Wirkung und Erfolg dieser Gesten in den „vor-offiziellen“ Jahrzehnten sind schwer abzuschätzen. Dort aber, wo sie ersichtlich sind, haben diese Gesten Wege geebnet, Annäherung und Austausch gefördert und – wenn vielleicht auch nur im Kleinen – Versöhnung gestiftet.

Der Besuch eines hohen Repräsentanten der Bundesrepublik war notwendig auf dem Weg der Versöhnung mit Oradour. Und doch ist es 70 Jahre später auch angebracht, an all jene zu erinnern, die ihm voraus nach Oradour gegangen sind: In Zeiten, in denen die deutsch-französische Freundschaft noch kein fait accompli war, in Zeiten, als sie dort noch nicht offiziell willkommen geheißen wurden und vielleicht auch nicht willkommen waren. Ja, vielleicht ist es gerade deshalb umso mehr angebracht, diese Pioniere nicht hinter der einen großen Gesten verschwinden zu lassen.

Andrea Erkenbrecher ist freiberufliche Historikerin. Sie arbeitet an Ihrer Doktorarbeit zum Umgang mit dem Massaker von Oradour in Deutschland. Seit 2012 ist sie auch Sachverständige bei der Staatsanwaltschaft Dortmund für das dort anhängige Verfahren zum Fall Oradour.

In der Septemberausgabe unserer Zeitschrift wird es einen weiteren Artikel von Frau Erkenbrecher geben, in dem Sie näher auf die Pioniere der Versöhnungsarbeit in Oradour eingehen wird.

Files:
oradour_2.jpg134 Ki