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Zum 85. Geburtstag von Hans-Jochen Vogel

Gegen Vergessen! Für Demokratie! –  Anwalt der Menschenwürde

Joachim Gauck

Gegen Vergessen –  Für Demokratie e.V. wurde am 19. April 1993 von vierzehn Persönlichkeiten gegründet. Wichtige Personen gibt es in der nunmehr 17-jährigen Vereinsgeschichte viele. In besonderer Weise hat aber der Gründungsvorsitzende Hans-Jochen Vogel mit Tatkraft und Leidenschaft die Entwicklung der Vereinigung vorangetrieben.

Das Gründungsmotiv von Gegen Vergessen – Für Demokratie war es, die Verbindung von historischer Erinnerungsarbeit und politischer Arbeit mit Gegenwarts- und Zukunftsbezug herstellen. Zwei Jahre nach der Gründung äußerte sich Hans-Jochen Vogel folgendermaßen:

„Einmal sollte verhindert werden, dass mit dem allmählichen Dahingehen der Männer solche, die verfolgt wurden oder Widerstand leisteten - das Gedenken an dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte abreißt. Ebenso sollte das, was nicht wenigen Menschen unter der kommunistischen Diktatur der Jahre 1945 bis 1989 widerfahren ist, vor dem Vergessen bewahrt werden.
Zum Anderen war der Zusammenschluss eine Antwort auf die Welle der rechtsextremistischen Gewalttaten, die damals über unser Land hinwegging. Eine Antwort auch auf den Ausbruch von Ausländerhass und Chauvinismus, auf die erneute Verteufelung von Minderheiten und die erneute Propagierung von Gewalt als Mittel der Politik, aber auch die Wiederbelebung eines Freund-Feind-Denkens, das im Konkurrenten nicht den demokratischen Wettbewerber um die bessere Lösung sieht, sondern den Gegner, den Feind, den es zu vernichten gilt.
Die Männer und Frauen, die sich damals zusammenfanden, wollten sich nicht darauf beschränken, andere zum Handeln aufzufordern. Sie wollten selber etwas tun, um den Gefahren, die da heraufgezogen waren, zu begegnen.“

Dem Anliegen, die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen und die SED-Diktatur wach zu halten, folgen heute über 2000 Mitglieder, die sich in 29 regionalen Arbeitsgruppen und Sektionen zusammengeschlossen haben. Im Sinne des Handelns eines "Nie wieder!" sind die Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements und politischer Teilhabe sowie die Auseinandersetzung mit politischem Extremismus weitere Schwerpunkte von Gegen Vergessen – Für Demokratie.

Dazu trägt unter anderem die Online-Beratung gegen Rechtsextremismus bei. Diese steht Menschen, die in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld mit Rechtsextremismus konfrontiert sind, mit Informationen und Rat zur Seite. Zudem hilft sie, wirksame Gegenstrategien gegen Rechtsextremismus zu entwickeln.

Mit jährlich rund 240 Veranstaltungen und Projekten wirkt Gegen Vergessen –  Für Demokratie in der politischen Bildung: vor Ort, in den Regionen und auch überregional. Das Spektrum der Veranstaltungsformen ist dabei groß. In Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Zeitzeugengesprächen, Filmvorführungen, Ausstellungen, Konzerten, Gedenkstättenfahrten oder Schülerprojekten wird eingeladen, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachzudenken.

Hans-Jochen Vogel formulierte schon 1995 strukturelle Überlegungen, wie die Arbeit von Gegen Vergessen –  Für Demokratie künftig organisiert werden sollte. Seine Ideen, woran unbedingt festgehalten werden sollte, sind bis jetzt eine Art strukturelles Manifest:
1. An der ganz überwiegenden Ehrenamtlichkeit unserer Aktivität. Unser Zusammenschluss ist entstanden, weil Menschen selber etwas tun wollten, um unsere Demokratie gegenüber extremistischen Gefahren zu schützen.
2. An einer weitgefächerten Kooperationsbereitschaft mit allen Gruppen und Organisationen, die mit unseren Zielen übereinstimmen. Wir beanspruchen keinerlei Vorrechte und freuen uns über alle, die zusammen mit anderen oder alleine selber Initiativen ergreifen.
3. An dem Ziel einer bundesweiten Regionalisierung. Wir können nicht alles von einer Zentrale her in Gang halten.
4. An der Überparteilichkeit, das heißt an der Zusammenarbeit von Männern und Frauen aus unterschiedlichen politischen und sozialen Gruppen und Bereichen. Uns geht es um die Bewahrung und Verteidigung dessen, worauf unser Gemeinwesen insgesamt beruht - nicht um Einzelinteressen oder Gruppeninteressen

Seit seiner Gründung mischt sich Gegen Vergessen –  Für Demokratie in politische Debatten ein. Der Verein hat sich unter der Führung seines Gründungsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel aktiv an den Diskussionen über die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern beteiligt. Der Erfolg mancher Initiativen rührte auch daher, dass viele Gespräche auf informeller Ebene geführt wurden. Denn nicht immer haben diejenigen, die am lautesten auftreten, den größten Erfolg. Wo nötig, scheuten der Vereinsvorsitzende und der Vorstand aber auch klare Worte in der Öffentlichkeit nicht - wie im Mai 2000, als die Verhandlungen über die Entschädigung wieder einmal ins Stocken geraten waren:

„Wir appellieren daher auf diesem Wege an alle Unternehmen, nicht länger beiseitezustehen. Wollen sie wirklich, dass diejenigen, die damals leiden mussten und inzwischen Hoffnung geschöpft haben, neuerlich enttäuscht werden? Insbesondere aber appellieren wir an die Unternehmen, für die Zwangsarbeiter tätig sein mussten oder die in der Nachfolge solcher Unternehmen stehen und sich noch immer verweigern. Sie sind drauf und dran, dem Ansehen unseres Landes schweren Schaden zuzufügen."

Hans-Jochen Vogel wies in zahlreichen Beiträgen auf die juristischen Möglichkeiten für einen raschen Auszahlungsbeginn hin, die Vereinigung suchte Partner auch im parlamentarischen Raum. Auf der Ebene der regionalen Arbeitsgruppen veranschaulichten beispielsweise die Münchener Mitglieder mit einer großformatigen Anzeige in der Süddeutschen Zeitung in eindrucksvoller Weise das hohe Alter der Betroffenen. Abgedruckt wurde der Auszug aus einer umfangreichen Liste der im Münchener Raum eingesetzten Menschen, die seit dem Februar 1999 –  also seit der Gründung der Unternehmensinitiative –  bereits verstorben waren.

Über die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ konnte endlich, 2001, mit der Auszahlung der Entschädigungen an ehemalige Zwangsarbeiter begonnen werden, die nunmehr abgeschlossen ist. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Stiftung 2010 plädierte Hans-Jochen Vogel dafür, im Engagement nicht nachzulassen:

„Es ist gut, dass die Stiftung nach dem Abschluss ihrer ursprünglichen Aufgabe ihre Tätigkeit fortsetzt und internationale Projekte fördert, die sich mit den Verbrechen des NS-Gewaltregimes auseinandersetzen. Damit führt sie der jüngeren Generation immer wieder vor Augen, wo es endet, wenn die Menschenwürde mit Füßen getreten wird, die Menschenrechte geleugnet und einem sogenannten Führer in gotteslästerlicher Weise Allwissenheit und Allmacht zugebilligt werden.“

Mit Verve wandte sich Hans-Jochen Vogel auch einzelnen Opfergruppen zu, die gerade in Fragen der Rehabilitierung und Entschädigung noch immer benachteiligt waren. So ist es unter anderem seinem Engagement mit zu verdanken, dass der Bundestag die NS-Urteile gegen sogenannte Kriegsverräter im Jahr 2009 pauschal aufhob.

Den noch immer unzureichenden Entschädigungsregelungen für Opfer des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms und für Zwangssterilisierte gilt das besondere Augenmerk des Gründungsvorsitzenden. Hier führt er weiterhin unermüdlich Korrespondenz mit politischen Akteuren und Opferverbänden.

Schon von Beginn an hatte Hans-Jochen Vogel deutlich gemacht, den Vorsitz von Gegen Vergessen - Für Demokratie nicht bis in alle Ewigkeit ausüben zu wollen. So folgte ihm im Jahr 2000 Hans Koschnick, der leider viel zu früh aus gesundheitlichen Gründen wieder ausscheiden musste, als Vorsitzender. 2003 wurde ich am Gründungsort der Vereinigung, in Bonn, zum Nach-Nachfolger von Hans-Jochen Vogel gewählt. Beide ehemaligen Vorsitzenden lehnen übrigens –  auch in Kenntnis der Parteiengeschichte - den Titel eines Ehrenvorsitzenden ab. Es macht uns aber viel Ehre, dass sie weiterhin tatkräftig zum Wohle der Vereinigung mitwirken.

Noch immer gilt die Fürsorge von Hans-Jochen Vogel im besonderen Maße der Mitgliederwerbung und der Einwerbung von Spenden für Gegen Vergessen – Für Demokratie. Hier offenbart sich auch die bekannte "Hartnäckigkeit", die ihn für die gute Sache umtreibt. So sind über 120 Bundestagsabgeordnete Mitglieder der Vereinigung. Dass darunter ein erheblicher Anteil SPD-Parlamentarier sind, dafür hat der ehemalige Parteivorsitzende Sorge getragen. Auch wenn sich bei uns viele Personen des öffentlichen Lebens zusammengefunden haben, ist die Vereinigung, die keine institutionellen Zuwendungen erhält, wesentlich auf Spenden angewiesen. Hier zeigt der Gründungsvorsitzende ein ausgesprochenes Gespür, wenn es darum geht, Unternehmen zu ermuntern. Die besondere Glaubwürdigkeit, für die er über alle Parteigrenzen hinweg durch seinen Lebensweg steht, ist diesem Zweck natürlich förderlich.

Alle Formen der heutzutage als "Fundraising" bezeichneten Spendenwerbung sind Hans-Jochen Vogel vertraut. So rief er beispielsweise schon zu seinem 80. Geburtstag dazu auf, von Geschenken abzusehen und stattdessen lieber Gegen Vergessen – Für Demokratie eine Spende zukommen zu lassen. Diesen Aufruf wiederholt er auch zu seinem 85. Geburtstag. Lange Zeit konnte die Vereinigung Vorhaben kleinerer Institutionen im erheblichen Umfang unterstützen. Der sogenannte "Pilawa-Fond" resultierte aus der Tatsache, dass Hans-Jochen Vogel an einer Quizshow teilgenommen hatte und sein in allen Belangen umfangreiches Wissen eine erhebliche "Siegesprämie" eingebracht hatte.

Oft werden wir in der Vereinung gefragt, warum wir die Vergangenheit nicht ruhen lassen wollen. Hans-Jochen Vogel gibt auf die Frage, warum wir uns an die nationalsozialistischen Verbrechen wie auch an das Unrecht des SED-Regimes erinnern sollen, eine klare Antwort:

„Nicht um Schuldkomplexe zu konservieren. Schuld ist ein individueller Begriff, mit dem keiner konfrontiert werden kann, der damals noch gar nicht gelebt hat. Und auch nicht, um ein- oder zweimal im Jahr Betroffenheit zu bekunden. Nein - wir sollen uns erinnern, um uns und vor allem den Nachgeborenen immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, wo es endet, wenn die Menschenwürde mit Füßen getreten wird, wenn Grundprinzipien des mitmenschlichen Zusammenlebens beiseite geworfen werden und wenn einem lange genug bejubelten Führer in gotteslästerlicher Weise Allmacht und Allwissenheit zugebilligt wird. Wer das weiß, wird sich stärker für das Gemeinwesen mitverantwortlich fühlen und neuerlichen Tendenzen und Parolen, die einen ähnlichen Geist erkennen lassen, mit größerer Entschiedenheit entgegentreten.“

Von besonderer Bedeutung ist dabei die Fähigkeit zur Versöhnung, die eine Voraussetzung für den dauerhaften Frieden ist. Auch aus seiner Biographie heraus überkommt Hans-Jochen Vogel ein Gefühl der Dankbarkeit, wenn er - bei allen Problemen der Gegenwart – die jetzige Situation betrachtet:

„Wenn uns 1945 in der Gefangenschaft einer vorausgesagt hätte: In der alten Bundesrepublik werdet Ihr eure Städte in zehn Jahren wieder aufgebaut haben, ihr werdet zehn Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge integrieren, ohne dass es zu gewaltigen Eruptionen kommt, eure Wirtschaft wird lange Zeit beständig wachsen und euch aus dem Elend der Nachkriegszeit herausführen, ihr werdet trotz aller Verbrechen des NS-Gewaltregimes wieder in der Völkerfamilie euren Platz finden. Auch werdet ihr in Frieden leben. Und vor allem: Gerade in der DDR wird der Wille zur Einheit und zur Freiheit nicht erlöschen. Vielmehr wird fünfundvierzig Jahre nach dem Kriege erstmals auf deutschem Boden eine friedliche demokratische Revolution Erfolg haben. Wenn uns das alles damals einer prophezeit hätte - wir hätten es ihm nicht geglaubt, wir hätten ihn für verrückt gehalten. Aber es ist Wirklichkeit geworden. Daraus schöpfe ich die Zuversicht: Wir können auch die Herausforderungen bewältigen, die sich uns heute stellen.“

Mit dieser Formulierung hat Hans-Jochen Vogel Menschen aus der Zuschauerhaltung herausgerufen und zum Engagement bewegt und manchmal auch „beauftragt“. Das macht uns alle und in besonderer Weise mich als Vorsitzenden sehr dankbar. Gegen Vergessen! Für Demokratie! – dies ist nicht nur der Name unserer Vereinigung, es ist auch die Botschaft, die Hans-Jochen Vogel unserer Gesellschaft zuruft.