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Eine Begegnung am anderen Ende der Welt

Porträt des Holocaust-Überlebenden Willy Lermer aus Melbourne

Sabine Zürn

Dass am Ende unserer Australien-Rundreise die Begegnung mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte stehen würde, hatten wir bei der Planung der Reise nicht vermutet: Ein nur zufällig entdeckter Hinweis im Stadtplan von Melbourne führte uns zum Jewish Holocaust Museum and Research Centre im lebhaften Stadtteil Elsternwick.

Das Jewish Holocaust Museum and Research Centre
Zwischen 1933 und 1963 emigrierten etwa 40.000 europäische Juden nach Australien. Die ersten Holocaust-Überlebenden kamen im November 1946 und fanden eine neue Heimat in den Städten Sydney und Melbourne. In der Zeit zwischen 1949 und Mitte der 1950er Jahre siedelten sich über 17.000 Displaced Persons aus Europa in Australien an.

Das privat geführte, kleine Museum wurde 1984 von jüdischen Einwanderern gegründet, um die Erinnerung an die Opfer des Holocaust und an ihre eigene Geschichte für die nachkommenden Generationen lebendig zu halten. Viele Überlebende sind bis heute als freiwillige Helfer im Museum tätig, führen als Guides durch das Museum und halten Vorträge als Zeitzeugen – darunter Zwillingsschwestern aus Prag, die in Auschwitz die Forschungen von Dr. Josef Mengele überlebt haben.

Eine berührende Begegnung
Ein liebenswürdiger Guide nahm uns bei unserem Besuch freundlich in Empfang: Willy Lermer, Holocaust-Überlebender aus Polen und seit 1950 in Australien lebend, erzählte uns beim Rundgang durch die Ausstellung seine Lebensgeschichte.
Während unseres lebhaften Gesprächs erwähnte ich, dass ich erst einige Monate zuvor Max Mannheimer kennengelernt hatte. Herr Mannheimer hatte das Vorwort verfasst zu Hermann Vinkes Buch „Wunden, die nie ganz verheilten. Das Dritte Reich in der Erinnerung von Zeitzeugen“,das ich als Lektorin verantwortete. Heute noch klingt in mir Willys ungläubige Frage: „Max? Is he still alive?!“
Es stellte sich heraus, dass sich die beiden Männer seit ihrer Befreiung aus dem KZ Dachau kannten und für einige Zeit Arbeitskollegen bei der jüdischen US-Hilfsorganisation JOINT  gewesen waren, sich aber seit Jahrzehnten aus den Augen verloren hatten. Es war eine große Ehre und Freude für mich, den Kontakt zwischen den beiden wiederherzustellen.
Die zufällige Begegnung und die daraus entstehende Freundschaft mit Willy Lermer waren der krönende Abschluss unserer Reise; schon auf dem Rückflug beschloss ich, für das Gedächtnisbuch für die Häftlinge des KZ Dachau ein Gedenkblatt über ihn zu verfassen. Dieses durfte ich am 22. März 2011 bei der Präsentation der neuen Gedenkblätter im Kloster Karmel in Dachau vorstellen.

Familie Lermer
Willy Lermer wurde am 24. September 1923 in Krakau geboren. An die Geburtsdaten seiner Eltern Herschel und Channa Lermer kann sich Willy nicht mehr erinnern. Seine einzige Schwester Dusia wurde am 11. April 1929 geboren. Nach seinem Schulabschluss begann Willy eine Ausbildung zum Buchhalter.
Die Ereignisse der Pogromnacht in Deutschland vom 9. November 1938 beunruhigten Willys Eltern, und sie befürchteten wegen des zunehmenden Antisemitismus ähnliche Ausschreitungen in Polen. Eine Flucht kam für sie jedoch nicht in Frage.

Getto und Deportation
Krakau war 1939 ein bedeutender Industriestandort mit ca. 260.000 Einwohnern, darunter etwa 70.000 Juden. Die Stadt wurde am 6. September 1939 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Wie alle Juden musste auch Familie Lermer 1940 ihre Wohnung verlassen und in eine beengte Gemeinschaftsunterkunft ziehen. Im März 1941 errichteten die deutschen Besatzer im Krakauer Stadtteil Podgórze ein Getto. Familie Lermer erhielt die Erlaubnis, in das Haus der Großmutter in einem Dorf nahe Krakau zu ziehen.
Willy Lermer wurde am 1. Juli 1942 verhaftet und im südöstlich von Krakau gelegenen Zwangsarbeitslager Plaszow interniert. Dies rettete ihm das Leben, denn im August 1942 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung des kleinen Dorfes nach Belzec deportiert und ermordet – darunter alle Familienmitglieder und Verwandten von Willy Lermer.

Zwangsarbeit und Konzentrationslager
Das Judenarbeitslager 1, in dem Willy Lermer inhaftiert war, stand unter der Leitung des SS-Oberscharführers Franz-Joseph Müller. Willy erinnert sich an die brutale Behandlung der Häftlinge. Täglich peitschte man sie aus oder hetzte Hunde auf sie.
Eines Tages musste Willy die Erschießung von 22 Gefangenen aus einem anderen Lagerteil miterleben: „We were simply told that the victims were unfit for work.“
Ein anderes grauenhaftes Erlebnis im Lager hat sich für immer in Willys Gedächtnis eingebrannt: „It was 1943, at Jewish holy day Yom Kippur, [Amon] Goeth ordered on this particular day to execute 50 Jews at random.” 
Ab Ende 1943 musste Willy Lermer in einem Stahlwerk arbeiten. Die Arbeit war sehr schwer, doch die Gefangenen wurden wenigstens nicht geschlagen. Als das Lager im August 1944 geschlossen wurde, „überstellte“ man die Zwangsarbeiter in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Willy Lermer kam in das sogenannte Lager Mexiko, in dem die Häftlinge unter katastrophalen hygienischen Bedingungen vegetierten: „There was no shame, no dignity, we were completely dehumanised. We had become like animals.”
Als die SS im Spätherbst 1944 mit der Auflösung des Vernichtungslagers begann, wurden die „arbeitsfähigen“ Häftlinge in die Lager im Westen transportiert. So gelangte Willy Lermer im November 1944 zunächst in das KZ Sachsenhausen und wurde am 17. November 1944 in das KZ Dachau eingewiesen. Das Zugangsbuch der Häftlinge verzeichnet ihn unter der Nummer 127666. Interniert wurde er im Außenlager Kaufering XI.
Durch die schwere körperliche Arbeit und die Mangelernährung verlor Willy Lermer sehr schnell an Kraft und Gewicht und wurde zum „Muselmann“. Hunger war sein ständiger Begleiter: „I dreamt of the day when I would be able to eat bread at my heart content. Sometimes I dreamt that I was sitting at a table covered with food […] and I could even smell the aroma of coffee, but it was all just a dream.” Einmal gruben die Gefangenen nachts den toten Hund eines SS-Manns aus und kochten den Kadaver.

 

Die Befreiung
Die Bombenangriffe der Alliierten waren für Willy Lermer ein Zeichen der Hoffnung: „I was firmly convinced that I would see and enjoy freedom […]. This belief and will to survive kept me going despite hunger, cold and various deprivations. Those who lost faith in survival died – they lost the will to live.”
Am 26. April 1945 wurden die Außenlager evakuiert. Die Häftlinge, die nicht marschfähig waren, lud man auf überfüllte Vieh- und Güterwaggons und transportierte sie nach Dachau, darunter auch Willy Lermer. „At this time, I felt that I was reaching the end of my strength. I felt that another week like this and I would not make it, although I still was determined and believed that I would. Taking a few steps was an unbelievable effort.”
Der Zug hielt immer wieder für Stunden an. Um Willy herum starben die schwer kranken, erschöpften und halb verhungerten Menschen, die in den größtenteils offenen Waggons bei Schnee und Regen sich selbst überlassen waren. Willys Gesundheitszustand war so schlecht, dass er glaubte, ebenfalls bald zu sterben. Er litt unter schwerem Durchfall und Tuberkulose und wog bei einer Größe von 1,80 m nur noch ca. 38 kg.
„Then late in the afternoon I heard screams, ...’We are free! We are free! The Americans are here!’ The day was 29th of April 1945. It is a day that I will never forget. My second birthday.” Die Befreiung durch die 7. Armee der US-Streitkräfte erlebte Willy Lermer in einem Zustand von Apathie und tiefster Erschöpfung. Er konnte nicht glauben, dass der Horror der Vergangenheit nun ein Ende hatte.

Rückkehr ins Leben
Bis November 1945 war Willy Lermer zur Genesung auf dem Lagergelände in Dachau untergebracht, danach bezog er eine Wohnung im Ort. Regelmäßig nahm er an den Tanzveranstaltungen im Kulturheim für KZ-Überlebende teil, besuchte in München Operettenaufführungen und die Fußballspiele des FC Bayern München. Bis heute ist er Fan des bayerischen Vereins.
Trotz aller Schritte zurück ins Leben litt Willy sehr unter den Erlebnissen in den Lagern und unter dem Verlust seiner gesamten Familie: „I have to admit that many a time I get depressed but somehow I managed to cope.“ Auf die Frage, wie er das Grauen der Konzentrationslager ertragen und überleben konnte, antwortet Willy: „Life in the camps was fear for your life, there was no special thing you could do to survive. I have tried the best I could to be unobtrusive, mentally I tried to think always positive, and of course you needed lots of luck.“

Neuanfang
Ab Januar 1947 arbeitete Willy Lermer für die jüdische Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee (JOINT). Bei der Arbeit lernte er seine Frau Rachela Rosenschein kennen. Sie stammte aus Warschau, war in das Vernichtungslager Majdanek deportiert worden und überlebte als Zwangsarbeiterin in Dinslaken. Nach ihrer Befreiung kam sie nach München. Über das Schicksal von Frau Lermer ist nur wenig zu erfahren, denn wie Willy erklärt: „My wife didn’t like to talk much about her wartime experiences“.
Ein Rabbiner traute das junge Paar im Dezember 1948 in der Münchener Synagoge. Schon kurze Zeit später beschlossen die beiden, nach Australien auszuwandern. Frau Lermer hatte dort Verwandte, und beide wollten so weit weg wie nur möglich von der „tragedy in Europe“.

Down Under
Mitte Januar 1950 begann in Genua ihre Schiffsreise auf der SS Continental, die im im März 1950 Melbourne erreichte. Hier bekam Willy Lermer Arbeit bei General Motors, später war er als Handelsvertreter selbstständig. Nur seine Begeisterung für den europäischen Fußball musste Willy aufgeben: „I got converted to Australian rules of football.“
Seit 1992 ist Willy Lermer aktives Mitglied des Jewish Holocaust Museum und hält Vorträge als Zeitzeuge. Er verbringt viel Zeit mit Familie und Freunden, interessiert sich für das Zeitgeschehen und für Sport, pflegt seine Kontakte per E-Mail und Facebook, hört gern Marschmusik und die Schlager der 1940er Jahre.
Seit 1950 war er nur noch einmal in Europa, aber weder in Polen noch in Deutschland: „There was nobody to visit, no friends or relations.“
Auf die Frage, welches Land er als seine Heimat ansieht, antwortet Willy stolz: „I was born in Europe, you can’t just throw that away, but I am an Aussie.“


Sabine Zürn ist Programmleiterin für Sachbücher und Lernhilfen beim Ravensburger Buchverlag und Mitglied von Gegen Vergessen - für Demokratie e.V.