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„Die Zeit heilt keine Wunden“ - Die (Über-)lebensgeschichte Jack Kagans

Amelie Artmann

Ein kleiner, weißhaariger Mann mit Brille tritt an das Rednerpult. Sein Englisch ist ein wenig gebrochen, seine Stimme für einen 83-jährigen jedoch klar und prägnant. Etwa 170 Zuhörer sind an diesem Abend in der Britischen Botschaft in Berlin versammelt, um die Geschichte Jack (Idel) Kagans zu hören, der einer der letzten noch lebenden Mitglieder der jüdischen Bielski-Partisanen ist. Kagan selbst wird an diesem Abend nicht von seinem Überleben in den Wäldern und Sümpfen Weißrusslands erzählen – der junge Schauspieler Franz Dinda  übernimmt diese Aufgabe für ihn – sondern skizziert in nur wenigen Sätzen sein „zweites“ Leben, das für ihn nach dem Zweiten Weltkrieg in England begann. Es war geprägt von einem schwierigen Start in einem Land, dessen Sprache er nicht sprach und das von dem Verlust seiner gesamten Familie überschattet wurde. „Die Zeit heilt keine Wunden“, sagte einmal ein Freund Kagans während einer Reise in die ehemalige Geburtstadt Nowogródek, oder wie Kagan selbst immer wieder feststellen musste: „the pain doesn’t disappear“:

Idel Kagan wuchs mit seiner Schwester als Sohn eines jüdischen Sattlers in der kleinen polnischen Stadt Nowogródek (heute Weißrussland) auf. Die Hälfte der etwa 12.000 Einwohner waren jüdisch und prägten das Stadtbild auf ihre ganz eigene Art und Weise: Zionisten, Bundisten und Orthodoxe lebten in bunter Vielfalt zusammen, gründeten zahlreiche Vereine und sprachen mindestens ebenso viele Sprachen. Mit Ausbruch des Krieges sollte dem vielfältigen jüdischen Leben in Nowogródek jedoch ein jähes Ende gesetzt werden. Die noch anfängliche Freude über den Einmarsch der Roten Armee weicht im Sommer 1941 einer massiven Furcht vor den anrückenden deutschen Truppen. Zu diesem Zeitpunkt glaubt noch ein Großteil der jüdischen Bevölkerung, unter der deutschen Besatzung womöglich „Gefängnis“ und „harte Arbeit“ zu erwarten – dieser Glaube wird jedoch spätestens am 26. Juni 1941 gebrochen. Mitglieder der Einsatzgruppe B (vermutlich) lassen auf dem Marktplatz – unter Begleitung einer Kapelle, die Walzer von Strauss spielt – 52 jüdische Männer erschießen. Der kleine Idel wird Zeuge dieses ersten Verbrechens. Von diesem Tag an hat die Vernichtungspolitik der Deutschen auch das kleine Städtchen Nowogródek und seine jüdische Bevölkerung erfasst. Nach und nach werden Juden im nahe gelegenen Wald erschossen oder in einem zwei Kilometer entfernten Getto zusammen gepfercht, um von dort im Umland Zwangsarbeit zu leisten. Auch die Familie von Idel Kagan fällt nach und nach dem Terror der ansässigen SS-Einheiten zum Opfer. Nachdem seine Mutter, Tante und Schwester erschossen werden und sein Vater in ein KZ deportiert wird – Kagan selbst überlebt zufällig unter einem Haufen von Gegenständen in der gemeinsamen Wohnung – plant der 14-jährige zusammen mit etwa 100 Juden die Flucht durch einen selbstgebauten Tunnel, die am 26. September 1943 schließlich unter lebensgefährlichen Bedingungen gelingt. Angekommen in den weißrussischen Sumpfgebieten, hat Kagan es erneut dem Zufall zu verdanken, auf Mitglieder der Bielski-Partisanen zu treffen und mit weiteren 1.200 Juden den Holocaust zu überleben.                

Kagans Lebensbericht zeugt nicht nur von der grausamen Vernichtungspolitik der Deutschen. Er ist auch ein Beleg für die Widerstandskraft der jüdischen Bevölkerung, die in Nowogródek um ihr Überleben kämpfte und sich unter den widrigsten Umständen ihrer völligen Auslöschung entziehen konnte. Und dass zum Überleben manchmal auch nur die passenden Stiefel oder ein hölzerner Suppenlöffel gehörten, machten Kagans Erinnerungen an diesem Abend ebenso deutlich. Darüber hinaus wird aber auch sichtbar, dass der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion eine äußerst komplexe Gewaltspirale erzeugte, in der sich Mitglieder verschiedener, konkurrierender Partisanengruppen bekämpften und diese wiederum die Zivilbevölkerung terrorisierten, um das eigene Überleben zu sichern. Nicht selten verrieten wiederum Bauern versteckte jüdische Partisanen an deutsche Einheiten, um in irgendeiner Form davon profitieren zu können.

Die Vortragsreihe „Die vergessenen Opfer des Vernichtungskriegs“ erinnert an eben jene Menschen, die wie Jack (Idel) Kagan Opfer des nationalsozialistischen Terrors wurden und in kaum vorstellbaren Gewalträumen ihr Überleben zu sichern versuchten. Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. ist gemeinsam mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ sowie der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. Veranstalter der Vortragsreihe, die bis 2015 weitergeführt werden wird und an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten erinnert.  Die nächste Veranstaltung in dieser Reihe wird ein Lesemarathon am 14. Juni in der Gethsemanekirche in Berlin zum Thema „Alltag unter deutscher Besatzung“ sein.

Amelie Artmann studiert im Masterstudiengang Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin und ist studentische Hilfskraft im Projekt „Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft“ in der Geschäftsstelle von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. 

 

 

Jack Kagan

Freiheit, Krieg und Rache

Überleben bei den jüdischen Partisanen

ISBN: 987-3-942240-05-5

Schutzgebühr: € 5,00

Erhältlich unter: info@stiftung-denkmal.de